David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Judentum, Islam, Hinduismus, Brahmanismus, Buddhismus,
west-östliche Weisheitslehre
Antworten
Benutzeravatar
Demian
Beiträge: 3533
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:09

#1 David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von Demian » Mo 29. Apr 2013, 21:38

Hier ein schöner Artikel von David Steindl-Rast, den ich euch empfehle.

Jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker

Weit schwerwiegender als diese äußerlichen Veränderungen sind aber die unserer Innenwelt. Ich habe einen Bewußtseinswandel miterlebt, der sich zum Beispiel in einer ganz anderen Stellung der Frau in der Gesellschaft ausdrückt, in einer Umwertung der Sexualität, in einer neuen Sensibilität für Menschenrechte. Der tiefgreifendste Umschwung aber betrifft entschieden das vorherrschende Gottesbild. Die Gottesvorstellung, die von der westlichen Gesellschaft vor sieben Jahrzehnten weitgehend vorausgesetzt wurde, verhält sich zur heutigen wie Eis zu Wasser - oder soll ich sagen, wie Wasser zu Dampf? Beide Bilder erscheinen mir zutreffend. Was starr festgelegt erschien, ist flüssig geworden; was begreiflich, ja fast greifbar erschien, hat sich „verflüchtigt."

Was liegt dieser umwälzenden Veränderung zugrunde? Ganz kurz gefaßt: Ein Wertwandel. Bis vor kurzem galt begriffliche Erfaßbarkeit als höchster Wert. Heute bewertet ein ständig wachsender Teil der Gesellschaft das persönlich Erlebbare höher. Im religiösen Bereich äußert sich das als fortschreitende Entwertung der Dogmatik und als „Popularisierung" der Mystik. Ich verwende hier den Begriff „Mystik" im Sinne von „persönlicher Erfahrung göttlicher Wirklichkeit". In meiner Kindheit galten Mystiker als ganz einzigartige Menschen; heute sehen wir mit Recht in jedem Menschen einen ganz einzigartigen Mystiker - zumindest der Veranlagung nach. Ob wir dieser Veranlagung gemäß leben, ist damit noch nicht gesagt.

…

„Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, daß sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um „die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit". Das wurde uns so klar, daß selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort „Gott" zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, daß wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten. Zugleich wurde uns bewußt, daß eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, daß ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist. So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existentielles Schweigen erlebt wird. Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird. Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt
.“

...

Es besteht auch die Gefahr, daß wir uns auf uns selber zurückziehen. Dies droht dem unausgegorenen Mystiker ständig. Über alle diese Gefahren hilft die christliche Gotteslehre hinweg. Schon allein, daß sie von einer Tradition getragen wird, kommt dem Gefühl, entwurzelt zu sein, zuvor und gibt uns in einem größeren Ganzen ein Zuhause. Diese Lehre verlangt scharfes, aber nüchtern selbstkritisches Denken und zugleich die Glut persönlicher Gotteserfahrung. Wenn diese beiden aber zusammenkommen, dann schmilzt das theistische Eis der Dogmen und lebenspendendes Wasser sprudelt.“

Quelle

Benutzeravatar
kandyra
Beiträge: 730
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:04

#2 Re: David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von kandyra » Fr 3. Mai 2013, 10:31

Demian hat geschrieben:
„Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, daß sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um „die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit". Das wurde uns so klar, daß selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort „Gott" zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, daß wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten. Zugleich wurde uns bewußt, daß eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, daß ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist. So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existentielles Schweigen erlebt wird. Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird. Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.“

klingt voll poetisch und wunderschön, als würde daraus eine Melodie... Bild
Bild

Benutzeravatar
Demian
Beiträge: 3533
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:09

#3 Re: David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von Demian » Di 7. Mai 2013, 12:39


Benutzeravatar
Heliaia
Beiträge: 430
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:12

#4 Re: David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von Heliaia » Di 7. Mai 2013, 13:45

Demian ,
finde das Video ganz toll :thumbup:
und das Thema mehr denn je aktuell
furchtlos zu sein eröffnet die Tore zu echter Liebe zwischen den Menschen
An individual who breaks a law that conscience tells him is unjust, and who willingly accepts the penalty of imprisonment in order to arouse the conscience of the community over its injustice, is in reality expressing the highest respect for the law

Benutzeravatar
Demian
Beiträge: 3533
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:09

#5 Re: David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von Demian » Mi 15. Mai 2013, 19:26

Dankbarkeit: ein spiritueller Weg

Ich übersetze „spirituell“ mit „lebendig“, denn „spiritus“, der Heilige Geist, ist der Lebensatem, die Wurzel alles Lebendigen. Und wenn man dankbar ist, führt einen das in die Begegnung mit dem Lebendigen. Dankbarkeit ist das Bewusstsein, dass das ganze Leben Geschenk ist.

Wie geht diese mystische Einstellung zusammen mit dem politischen Engament, zu dem Sie auch immer wieder aufrufen?

Dass Mystik und Politik sich widersprechen, ist ein Irrtum. Im Gegenteil, sie bedingen sich sogar. Und wenn manche Leute meinen, dass Glauben eine Absage ans Politische bedeute, unterstützen sie letztlich die bestehende Politik. Eine nur aufs Innere konzentrierten Religion ist gefährlich, weil sie – ungewollt – einen Pakt mit der Welt schliesst. Deshalb braucht es die Mystiker mit ihrer Radikalität. Sie sind so etwas wie die Hechte im Karpfenteich, welche die anderen ständig aufscheuchen.

Aber das Fragen nach Gott ist im Christentum doch ein völlig anderes als im Buddhismus.

Ja natürlich, Buddhisten kennen keinen persönlichen Gott. Deshalb brauche ich im interreligiösen Dialog für Gott den Ausdruck des „Mehr“, den ich von Dorothee Sölle übernommen habe. Das „Mehr“, dieses Wissen um eine Dimension, die uns übersteigt, teilen wir mit allen Religionen. Gerade die Buddhisten lassen sich besonders tief auf dieses „Mehr“ ein. Dies zu wissen und uns in diesem „Gott-Raum“ zu begegnen, ist eine Überlebensnotwendigkeit in der heutigen Zeit, in welcher der Fundamentalismus solch entsetzliche Folgen hat.

Sie grenzen sich gegenüber dem Buddhismus gar nicht ab?

Nein! (vehement) Wer abzugrenzen und auszugrenzen beginnt, ist aus der religiösen Dimension bereits herausgefallen.

Das müssen Sie mir näher erklären!

Wenn Religion bedeutet, uns mit Gott, mit dem grossen „Mehr“ einzulassen, und wenn Gott unbegrenzbar ist, dann bedeutet jedes Eingrenzen und Ausgrenzen einen Abfall von Gott. Weil das „Mehr“ eben immer „mehr“ ist als unser Begreifen.

Quelle

Benutzeravatar
Heliaia
Beiträge: 430
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:12

#6 Re: David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von Heliaia » Mi 15. Mai 2013, 20:11

Demian hat geschrieben: Deshalb braucht es die Mystiker mit ihrer Radikalität. Sie sind so etwas wie die Hechte im Karpfenteich, welche die anderen ständig aufscheuchen.
:D :lol:
hallo Herr Hecht :wave:
Demian hat geschrieben:Wenn Religion bedeutet, uns mit Gott, mit dem grossen „Mehr“ einzulassen, und wenn Gott unbegrenzbar ist, dann bedeutet jedes Eingrenzen und Ausgrenzen einen Abfall von Gott. Weil das „Mehr“ eben immer „mehr“ ist als unser Begreifen.
ja das kling ja schier göttlich ! ;) genial !
alle Christen sind somit Abgefallene :mrgreen: :silent: :angel:
mfG
die Hechtin :D
An individual who breaks a law that conscience tells him is unjust, and who willingly accepts the penalty of imprisonment in order to arouse the conscience of the community over its injustice, is in reality expressing the highest respect for the law

Benutzeravatar
Demian
Beiträge: 3533
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:09

#7 Re: David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker

Beitrag von Demian » Di 21. Mai 2013, 22:01

Über die Spiritualität der Dankbarkeit ... die Erkennungsmelodie von Steindl-Rast.


Antworten