Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Säkularismus
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Pluto
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#1 Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Pluto » So 8. Nov 2015, 10:55

closs hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Als Paulus den Athenern etwas von einem gekreuzigten jüdischen Wanderprediger erzählte, der das nahe Weltende verkündet hatte, gab es dort die großen philosophischen Lebensgemeinschaften der epikureischen und stoischen Schule, die gemeinsam lebten, philosophierten und Wissenschaft betrieben. Die fanden Paulus Wundererzählungen und Gottessohnlehre ziemlich lächerlich und wollten ihn nur schnell wieder los sein, - meiner Meinung nach völlig zu recht. Denn diese sehr gebildeten Leute, die allesamt lesen und schreiben konnten, wussten längst, dass die Welt und der Himmel nach natürlichen Gesetzen funktionieren und ihre Götter waren allenfalls noch für die traditionelle Volksfrömmigkeit relevant.
Das wäre ein großes Thema mit dem Titel:

"Was ist eigentlich Erkenntnis? Das babelsche 'Nichts war ihnen zu steil' (= zivilisatorisches, naturwissenschaftliches, technisches Wissen) oder das innere Erkennen im Sinne des hebräischen 'jada'?". - Man muss nicht beides gegeneinander/komplementär verstehen - das ist nicht mein Ansinnen. - Aber diese Frage selbst wird von der Antike und unserer Gegenwart ganz anders beantwortet als von Christentum und meinetwegen Buddhismus.

Ich muss Dir nicht versichern, dass das eine nicht die Zerstörung des anderen entschuldigen kann. - Es geht letztlich um die Frage: "Was ist eigentlich 'Fortschritt'"?
Ich muss dir absolut Recht geben... "Was ist Erkenntnis?" ist in der Tat ein spannendes Thema.

Ich habe deine Frage etwas umformuliert, und den Thread: "Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?" genannt.
Ich hoffe es passt. :D
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closs
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#2 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » So 8. Nov 2015, 11:45

Pluto hat geschrieben:Ich hoffe es passt.
Es ist etwas anderes. - Denn hier stellst Du wieder die Wahrnehmung in den Mittelpunkt, die man dann methodisch beschreiben kann. - Meine Frage war: "Was IST (eigentlich) Erkenntnis".

Später mehr - jetzt geht's weg.

Pluto
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#3 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Pluto » So 8. Nov 2015, 12:41

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Ich hoffe es passt.
Es ist etwas anderes. - Denn hier stellst Du wieder die Wahrnehmung in den Mittelpunkt, die man dann methodisch beschreiben kann. - Meine Frage war: "Was IST (eigentlich) Erkenntnis".
Okay, Das eine schließt das andere nicht aus.

Da Erkenntnis nur auf der Grundlage der Wahrnehmung entsteht, müssen wir auch hier von der Wahrnehmung ausgehen, und die Frage stellen, wie es denn kommt, dass wir glauben dadurch Erkenntnis zu gewinnen.

Die wichtige Frage ist, warum wir an Erkenntnissen festhalten, wenn nicht wegen der Wahrnehmung?
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SilverBullet
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#4 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von SilverBullet » So 8. Nov 2015, 13:02

ch denke:
Wahrnehmung, die mit „phänomenalen Inhalten“ arbeitet, enthält bereits Erkenntnis in sich.

Für mich sind die phänomenalen Inhalte ein Verstehen.
Wenn z.B. in meinem Sehfeld ein Bereich „blau“ erscheint, dann ist bereits sowohl das Vorhandensein des "Bildbereichs", als auch das Blau ein Verständnis, eine Erkenntnis.
„Blau“ ist bestimmt ein sehr konkreter „Inhalt“, aber auch komplett abstrakte Zusammenhänge liegen irgendwie „phänomenal“ vor. Jede Zahl, jedes Wort, jede Bedeutung, jeder Zusammenhang scheint irgendwie „etwas“ zu sein.
In diesem Zusammenhang sind Abstände innerhalb des „visuell erfassten Raumes“ höchst erstaunlich, denn sie sind für uns irgendwie greifbar/einschätzbar, also auch „etwas“, beschreiben aber im Grunde gerade das, was nicht da sein soll.

Wie könnte es funktionieren?

In meiner Vermutung berechnet das Gehirn Verstehzusammenhänge, d.h. in den neuronalen Abläufen (Algorithmen) werden die Bedeutungszusammenhänge von Regeln wirksam, durch die „Verstehen“ stattfindet.

Das gesamte Bewusstsein wäre damit ein fortlaufender Erkenntnisablauf.
Die „subjektive Perspektive“ ist somit kein (im wirklichen Sinne) existierender Sachverhalt, sondern ein Verstehzusammenhang, also Erkenntnis.

„Vorstellung“ ist aus meiner Sicht ein anderes Wort, das in Bezug zu Verstehen/Erkenntnis steht. Eine Vorstellung ist eine „Überzeugung von Etwas“.

Wichtig dabei ist:
Es muss nicht korrekt sein.
Verstehen/Erkenntnisse/Vorstellungen sind oftmals komplett falsch.

Auf den ersten Blick wirkt es vermutlich erstaunlich, dass für das Verstehen „nur „ ein neuronaler/algorithmischer Ablauf notwendig sein soll.
Intuitiv geht man wohl eher von einem „Subjekt“ aus.
Diese „Intuition“ ist aber nicht weiter aufschlüsselbar, denn es gibt aus meiner Sicht keine Erkenntnis, was ein „Subjekt“ sein, welche Fähigkeiten „es“ haben und welche Vorgänge ablaufen sollen.
„Subjekt“ ist nur eine Art Denknotlösung, bei dem man sagt: „alle Rätsel packen wir da hinein und das Ding kann es dann halt irgendwie“.
Das Wort „Subjekt“ oder alternativ „Ich“, bringt keinerlei Mehrgewinn, um die Erkenntniszusammenhänge darzulegen.

Wenn „man“ versucht, neues Verstehen, neue Erkenntnis über Nachdenken aufzubauen, dann geschieht meiner Meinung nach folgendes:
Der Zusammenhang eines „notwenigen Auswertungsprozesses“ setzt sich innerhalb der Vielzahl der Gehirnaktivitäten durch und wird „ins Bewusstsein“ als „Nachdenken“ eingerechnet. Es wird also der „phänomenale“ Verstehzusammenhang aufgebaut, dass aktuell ein „Nachdenken“ erfolgt. Die Auswertungen im Gehirn kommen irgendwann zu einer „sich durchsetzenden Ergebniskonstellation“, was letztlich ins Bewusstsein als „Verständnis in Form von Idee/Schlussfolgerung“ eingerechnet wird.

Die Basis für Wahrnehmung und Erkenntnis wären damit in meiner Vermutung, neuronale Algorithmen.
Ich vermute, dass es im Gehirn, für konkrete Problemkonstellationen genauso konkrete Verwaltungs-/Lösungsalgorithmen gibt.
Diese könnten nichts mit dem „Bewusstsein“, also den Verstehzusammenhängen, zu tun haben. Es wäre aber alternativ auch vorstellbar, dass das Gehirn einheitlich mit Verstehzusammenhängen arbeitet und nur manche in den „Gesamtbewusstseinsablauf“ eingerechnet werden.

Die Effekte aus Krankheiten und Verletzungen zeigen, dass Gehirnteile durchaus ausfallen können, ohne den Gesamtvorgang zu gefährden. Dies kann im Grunde nur möglich sein, wenn ein einheitliches Grundsystem vorliegt, d.h. die Gehirnteile sind optional aktiv und jeder Vorgang kann selbstständig seinen „kompletten Anteil“ zum Bewusstsein beitragen.
Mit diesen Überlegungen neige ich eher zur zweiten Variante, also einer Gehirnstruktur, die einheitlich nach den Verstehregeln arbeitet. Ich hoffe man wird dies irgendwann eindeutig klären können.

Die grosse Preisfrage ist natürlich:
Wie wird das Verstehen, die Erkenntnis, derart „hergestellt“, dass es (bei einem zeitlichen Ablauf), innerhalb dieser Zusammenhänge, sogar zu einer „Überzeugung von Bewusstsein“ kommt (was natürlich selbst auch wieder ein konkretes Verstehen, eine konkrete Erkenntnis ist)?

Das Verrechnen von Sehdaten, so dass z.B. der „blinde Fleck“ des Auges statistisch ausgeglichen wird, oder Kontrastausgleiche auf Basis von optischen Zusammenhängen erfolgen, erscheint aus Sicht unseres technischen Verständnisses schon irgendwie erreichbar/machbar zu sein, aber beim Aufbauen von Versteh-/Erkenntnisabläufen sind wir regelrecht „blank bis auf die Knochen“ (zumindest ich).
Das ist jedoch nicht weiter verwunderlich, denn das Gehirn zeigt generell die Tendenz, dass unwichtige Vorgänge aus „dem Bewusstsein“ herausgehalten werden.

Nun sind die Verstehregeln auf keinen Fall „unwichtige Zusammenhänge“, aber es gab wohl nie einen (evolutionären) Anlass, dass das Gehirn die eigene „neuronale Strategie“ als Bedeutungszusammenhang in die Wahrnehmungsauswertung aufnimmt.

Das Resultat ist:
Menschen können verstehen und erkennen, haben aber keine Ahnung, wie sie das eigentlich machen…

(in diesem Zusammenhang sehe ich den Begriff „Qualia“ als „das Rätsel des Verstehens“)

Pluto
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#5 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Pluto » So 8. Nov 2015, 14:04

SilverBullet hat geschrieben:Die grosse Preisfrage ist natürlich:
Wie wird das Verstehen, die Erkenntnis, derart „hergestellt“, dass es (bei einem zeitlichen Ablauf), innerhalb dieser Zusammenhänge, sogar zu einer „Überzeugung von Bewusstsein“ kommt (was natürlich selbst auch wieder ein konkretes Verstehen, eine konkrete Erkenntnis ist)?
Zustimmung.
Aber wozu dient unsere Erkenntnis? Dient sie derWahrheitsfindung, oder dient sie der evolutionären "Fitness" wie der Psychologe Donald Hoffman in seinem Vortrag (März 2015) meint?

Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

closs
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#6 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » So 8. Nov 2015, 16:43

Pluto hat geschrieben:Die wichtige Frage ist, warum wir an Erkenntnissen festhalten, wenn nicht wegen der Wahrnehmung?
Natürlich - wir haben nur die Wahrnehmung dazu. - Wobei hier wieder klarzustellen ist, dass Wahrnehmung jegliche Wahrnehmung ist, also alles, was vom Menschen als Input registriert wird (= nicht nur sinnliche Wahrnehmung).

SilverBullet hat geschrieben:Das Resultat ist: Menschen können verstehen und erkennen, haben aber keine Ahnung, wie sie das eigentlich machen…
Diesen Satz empfinde ich als extrem erfolgsversprechend. :thumbup:

Auch Deinen hinweis auf "Qualia", zu denen wik sagt:
"1929 wurde er durch C. I. Lewis in dem Buch Mind and the World Order[2] im Sinne der aktuellen Philosophie des Geistes bestimmt als „erkennbare Charaktere des Gegebenen, die wiedererkannt werden können, und deshalb eine Art Universalien sind“ (wik). - Klasse Beschreibung von wik.

Wären wir uns einig, dass Methoden/Modelle der Versuch sind, "Charakter des Gegebenen wiederzuerkennen"?

SilverBullet
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#7 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von SilverBullet » So 8. Nov 2015, 17:01

OK, wozu dienen Erkenntnisse bzw. das Verstehen?

Technisch gesehen:
Verstehen ist ein notwendiger Koordinationsablauf um eine Vielzahl von Parallelprozessen im Gehirn über längere Zeit hinweg abzustimmen.
Dadurch, dass es keine Steuerzentrale im Gehirn zu geben scheint, muss ein einheitliches „Verständigungsformat“ gefunden werden. So zusagen ein „Spiel, an em jede Aktivität teilnehmen kann“: Bewusstsein.

Unter Optimierungsgesichtpunkten:
Verstehen optimiert Verstehen
Es gibt Beispiele bei denen klar wird, dass das Gehirn auf Basis eines Verstehens entscheidende Optimierungen vornimmt.

Beispiel:
In einem Schachbrett mit dunklen Flächen gleicher Farbe, erscheinen manche Flächen dunkler, weil sie im Schatten eines Zylinders liegen. Das Gehirn erzeugt ein eindeutigeres Verstehen, als eigentlich vorliegt, um mit dieser Optimierung einen besseren Umgang mit der Umwelt zu erreichen.

Beispiel:
Kippbilder. Bei diesen Bildern wechselt das Gehirn alle drei Sekunden das Verständnis – Vordergrund wird zu Hintergrund und umgekehrt. Das Drahtmodell eines Würfels ist ein bekanntes Beispiel – man sieht ihn abwechselnd auf zwei Arten. Dadurch wird sichergestellt, dass alle Informationen erfasst werden.

Beispiel:
Schwarz/Weiss-Flecken-Bilder. Diese Bilder sehen zunächst aus, wie ein Dalmatinerfell. Wenn man den Inhalt aber mal kapiert hat, oder gesagt bekommt, was es darstellt, sieht man plötzlich keine Schwarz/Weiss-Fläche mehr, sondern die darin enthaltenen Objekte. Anschliessend kann man kaum mehr willentlich „zurückschalten“.

Diese Optimierungen sind elementar wichtig.
Wenn ein Lebewesen auf Basis eines Vorwissens versteht, auf was es in der aktuellen Umwelt ankommt, können die Umweltdaten schneller und effizienter ausgewertet werden.

Es gibt im Gehirn zahlreiche Abläufe, die auf Optimierung in Hinsicht auf Geschwindigkeit und Energieeffizienz ausgerichtet sind.
-automatische Abläufe werden unbewusst durchgeführt
-bekannte Gesichter werden um Faktor 3 schneller erkannt, als weniger bekannte Gesichter
-es gibt Vergessvorgänge im Gehirn
-wenn Räumlichkeiten bekannt sind, verwenden wir kaum Sinnesdaten zur Orientierung
(die Liste ist bestimmt noch viel länger)

SilverBullet
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#8 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von SilverBullet » So 8. Nov 2015, 17:30

closs hat geschrieben:Wären wir uns einig, dass Methoden/Modelle der Versuch sind, "Charakter des Gegebenen wiederzuerkennen"?
Nein. (Gegenargument: Synästhesie)

Wie ich geschrieben habe, sehe ich „Qualia“ als „Rätsel des Verstehens“.

Dieser Vorgang spielt sich rein im evolutionär entstandenen Umgang mit den Bedeutungszusammenhängen aus den elektrischen Impulsen ab.
Von einem „Gegebenen“ und einem „Widererkennen“ kann dabei keine Rede sein.
Meiner Meinung handelt es sich beim Verstehen, um einen kompletten Eigenentwurf aus der Entwicklung des Gehirns.

Unser Verstehen hat sich in der Praxis optimiert, so dass es für unsere Umgebung funktioniert (meistens), aber die philosophische Tendenz eine „mystische Aussenverbindung“ verbal anzudeuten, ist nicht nachvollziehbar.

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Thaddäus
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#9 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Thaddäus » So 8. Nov 2015, 19:00

Pluto hat geschrieben: Die wichtige Frage ist, warum wir an Erkenntnissen festhalten, wenn nicht wegen der Wahrnehmung?
Die Erkenntistheorie versucht zu erklären, wie wir überhaupt zu Erkenntnis und Wissen gelangen können. Dazu mus aber der ganze Vorgang der Wahrnehmung auf einer elementaren Ebene problematisiert werden. Kant hat das in seiner Kritik der reinen Vernunft vorbildlich gemacht.

In modernerer Sprache als bei Kant, sieht das dann ungefähr so aus:

Alles, was wir über unsere Sinnesrezeptoren von der Welt wahrnehmen, ist zunächst nichts anderes als elektrochemische Impulse, die über die Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden. Nichts anderes. Diesen elektrochemischen Impulsen in den Nervenbahnen haftet selbst weder eine Räumlichkeit an, noch eine Zeitlichkeit. Zeitlichkeit könnte allenfalls in der zeitlichen Aufeinanderfolge dieser Impulse als Datenstrom gesehen werden, die im Gehirn ankommen. Aber erst das Gehirn schafft den Raum und die Zeit, innerhalb derer der Datenstrom interpretiert wird als dieses und jenes konkrete Ding. Die elektrochemischen Impulse besitzen weder Raum, noch ist Zeit eine ihrer Eigenschaften.
Dieser Datenstrom muss vom Gehirn interpretiert werden. Erst durch die Interpretation des Gehirns werden aus dem Datenstrom Bäume, Wärme- oder Schmerzempfindungen, Bücher, die wir in Händen halten und die wir lesen, schwarze Lettern auf rauhem Papier, Professoren und Dalai Lamas, die uns die Welt erklären, Teilchenbeschleuniger und Messskalen, die wir ablesen und Autos auf Straßen, die uns umfahren wollen etc. pp. Dieser Datenstrom wird also erst durch eine Interpretation des Gehirns zu genau der Welt, in der wir all unsere Erfahrungen und unser Erfahrungswissen sammeln.

All unser Wissen über evolutionäre Prozesse, die Quantenphysik, die Entwicklung von Säuglingen bis hin zum Erwachsenen; über Professoren, die mich beeindruckt haben durch ihre Belesenheit, über Bücher, aus denen ich das meiste, was ich weiß, erfahren habe und selbstverständlich meine eigenen Beobachtungen der Natur, wenn ich Naturwissenschaftler bin. All dieses sind nichts weiter als elektrochemische Impulse, die mal in meinen Nervenbahnen waren und die mein Gehirn interpretiert hat.

Alles, was wir über unsere Sinne wahrnehmen unterliegt freilich einem Irrtumsvorbehalt. Ich kann mich über meine Wahrnehmungen irren. Ich kann optischen Täuschungen unterliegen, Wahnvorstellungen haben oder ich könnte auch ein Gehirn im Tank sein, dem alles nur vorgegaukelt wird wie im Film Matrix. Oder ein deus malignus täuscht mich, ein böser Dämon, wie es Descartes erkenntniskritisch formulierte.

Schon das bloße Reden von Nervenbahnen und grauer Gehirnsubstanz, von evolutionären Prozessen und eindeutigen, empirischen Beobachtungen ist also problematisch.

Auf dieser radikal-erkenntniskritischen Basis fängt Kant überhaupt erst an mit seinen Überlegungen.

Wenn wir Erkenntniskritik betreiben, dann stoßen wir unwillkürlich auf das je eigene Bewusstein und den je eigenen Geist, als der Grundlage, die unhintergehbar ist. Unhintergehbar nicht in dem Sinne, dass sie nicht wiederum einer kritischen Betrachtung unterzogen werden könnten. Aber unhintergehbar insofern, als dass mir mein eigenes Bewusstein und mein eigenes Nachdenken als unmittelbar gegeben erscheint. Ich kann mich darüber irren, ob dies dort ein Baum ist, aber ich kann mich nicht darüber irren, dass ich in diesem Moment denke, dass dies ein Baum ist und das es mir in diesem Augenblick bewusst ist, dass ich denke, dass dies dort ein Baum ist (Descartes).

Ich bin am Ende also erkenntnistheoretisch stets zurückgeworfen auf mein eigenes Denken, welches ich beobachten kann.

Kant versucht nun, auf der Grundlage des Denkens und der Vernunft, Schlüsse zu ziehen, warum ich Welt überhaupt wahrnehmen und wie ich zu Wissen über die Welt gelangen kann.
Da mich mein Erfahrungswissen stets täuschen kann, gilt es, die Voraussetzungen des Denkens bzw. des Verstandes selbst zu untersuchen.

Genau das ist eine wesentliche Aufgabe der Erkenntnistheorie.
Zuletzt geändert von Thaddäus am So 8. Nov 2015, 20:24, insgesamt 1-mal geändert.

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#10 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » So 8. Nov 2015, 19:54

SilverBullet hat geschrieben:Von einem „Gegebenen“ und einem „Widererkennen“ kann dabei keine Rede sein.
Das ist nun mal Teil der Definition. - Willst Du das einfach ausblenden?

SilverBullet hat geschrieben:Meiner Meinung handelt es sich beim Verstehen, um einen kompletten Eigenentwurf aus der Entwicklung des Gehirns.
Einverstanden. - Und ist auch logisch: Denn schließlich muss sich die Wahrnehmung irgendwie organisieren, um erfolgreich sein zu können.

SilverBullet hat geschrieben: aber die philosophische Tendenz eine „mystische Aussenverbindung“ verbal anzudeuten, ist nicht nachvollziehbar.
Ist in Deiner Weltanschauung nicht nachvollziehbar. - Im Kontext des Begriffs "Qualia" ist es das sehr wohl.

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