Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

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ThomasM
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#1 Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM » Mo 20. Apr 2015, 09:33

Savolinna und ich haben im Rahmen des threads um Gehirn und Bewusstsein ein paar Gedanken über Literaturwissenschaft und Naturwissenschaft ausgetauscht, die thematisch eigentlich ein eigenes Gebiet sind. Deshalb lagere ich die Gedanken hier einmal aus. Literaturwissenschaft steht für mich erst einmal als Beispiel einer Geisteswissenschaft, es gibt aber auch andere geisteswissenschaftliche Gebiete, die man aufzeigen könnte.

Meine Idee war, Analogien und Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede in Methode, Randbedingungen und Zielen darzustellen. Vielleicht kommt man auf diese Weise weiter, als wenn man versucht, naturwissenschaftliche Methoden der Geisteswissenschaft überzustülpen oder umgekehrt.

Zunächst hat Savolinna die Grundlagen der Literaturwissenschaft erläutert:
Savolinna hat geschrieben: In einem ist man sich einig: Wir untersuchen - als Literaturwissenschaftler - nicht die "wirklichen" Absichten eines Autors, sondern die Werke.
In einem anderen Punkt ist man sich ebenfalls einig:
keine Deutung, nicht einmal der verstehende Lesevorgang, ist frei von einem Raster, das der das Werk Deutende und sogar nur Lesende benutzt und das auf sein eigenes Konto geht.

Hier aber schon beginnt die professionelle Methodik, die closs oben einfordert:
Der professionell methodisch Herangehende bennent und beschreibt dieses Raster, das er auf das Werk legt und mit dem er es aufnimmt.
Das heißt: professionelle Selbstreflexion ist erforderlich.

In der Regel besteht dieses "Raster" aus mindestens drei Komponenten:
a. die eigene Kultur und die eigene Zeitepoche
b. die persönlichen Voraussetzungen
c. das persönliche Interesse an dem Werk
...
Denn aus der Erkenntnis, dass kein Mensch dieser Erde unbeeinflusst von seiner Kultur, seiner Psyche, seinen Erlebnissen einen Text oder ein Werk verstehen kann, wurde von einigen Theoretikern gefolgert, dass Text oder Werk keine Eigenaussage habe, sondern komplett Produkt des Lesenden und Verstehenden sei.

Dagegen gab es dann erneut Theorien, die die grenzenlose Offenheit der Deutung ablehnen - dazu gehört unter anderem die von Umberto Eco ("Der Name der Rose"), der gleichzeitig ein bedeutender Dichter und ein bedeutender Literaturwissenschaftler ist -, weil ein Text oder Werk notgedrungen eine eigene Struktur habe, die im Werk eingebaut sei und die man nicht ignorieren dürfe.

Zu diesem "sowohl als auch" neige auch ich. Ich lehne - wie Eco - ab, die Psyche des Autors, also seine "Intentionen" als erkennbar zu behaupten, sehe aber auch deutlich, dass die eigene Denk- und Verstehensstruktur immer beim Lesen vorhanden ist. Und sehe ebenfalls deutlich, dass das Werk nicht beliebig deutbar ist, es also im Gegenteil eine eigene "Intention" hat.

Eco nennt das "Werkintention", im Gegensatz zur "Autorenintention".
Letztere ist von keinem rekonstruierbar, und erstere ist eine über die Struktur herausfindbare Eigenintention, die noch nicht einmal vom Autor bewusst gewollt sein muss.
Tatsächlich muss man drei Dinge unterscheiden.
Werkintention - das was in dem Werk an sich drinsteckt
Autorenintention - das was der Autor ausdrücken wollte
Interpretatorenintention - das was der Interpret des Werkes hineinsteckt. Denn auch der geht an das Werk nicht ohne eigenes Interesse dran.

Daran anknüpfend habe ich versucht Analogien in die Naturwissenschaft zu setzen
ThomasM hat geschrieben: Die Werkintention sind die natürlichen Prozesse und Abläufe. Sie bestimmen, was läuft und wie es läuft. Autor des Werkes ist "die Natur" und die hat den Vorteil, dass sie immer da ist und immer dieselben Antworten gibt. Wenn ich etwas über die Werkintention der Natur erfahren will, dann muss ich sie einfach fragen. Nennen wir das Experiment.
...
Im Gegensatz zur Meinung von zu vielen hier gibt es auch in der Naturwissenschaft die [d]Autorenintention[/d] Interpretatorenintention. Das sind die Modelle, die benutzt werden, um die Naturvorgänge zu analysieren und zu verstehen. Diese Modelle sind abhängig von der Zeitepoche, von den persönlichen Voraussetzungen und auch von den persönlichen Interessen dessen, der das Modell formuliert hat.
Die Subjektivierende Wirkung dieser [d]Autorenintention[/d] Interpretatorenintention ist wohl nicht so stark, wie bei der Literatur, aber es fällt z.B. auf, dass es verschiedene Epochen gab, in denen bestimmte Begrifflichkeiten in den Modellen prägend waren.
Es kann an dieser Stelle offen gelassen werden, ob es in der Naturwissenschaft so etwas wie eine Autorenintention gibt, denn dazu müsste man ja einen Autor annehmen. Gerade das wird ja von den Materialisten bestritten. Streng genommen wäre die Annahme einer Autorenintention bereits der Übergang in die Geisteswissenschaft (Theologie, Philosophie).

Neben der Analogie gibt es auch Unterschiede, methodisch wie von den Randbedingungen her
ThomasM hat geschrieben: Trotz dieser Analogie gibt es signifikante Unterschiede zwischen der Naturwissenschaft und der Literatur. So sind die Modelle der Naturwissenschaft in Mathematik geschrieben. Das ist so eine Art Universalsprache, die viele objektive Charakteristiken trägt. Das ist so, als wenn Goethe seinen Faust in einer Universalsprache geschrieben hätte. Und es bleibt die Tatsache, dass die Natur immer befragt werden kann.
Savolinne hat geschrieben: Auch gewisse Modelle der Kulturwissenschaftler haben eine Art "Zeichensystem" entwickelt, die denen der Mathematik gleichen.
Der Ethnologe Claude Levi-Strauss hat in Anlehnung an die strukturale Sprachwissenschaft zum Beispiel strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Verwandtschaftssystemen gewisser Völker und der Sprache aufgezeigt.

Solche Gedanken wurden in der Generativen Grammatik und der Semiotik weiterentwickelt, um - zum Beispiel von Noam Chomsky - zu der Frage geführt zu werden, ob solche den äußeren Abläufen unterlegte "Substrukturen" ein Hinweis auf das Arbeiten des menschlichen Geistes seien.
Resbremerding und Pluto haben kürzlich an verschiedenen Stellen hier im Forum auf dieses Phänomen hingewiesen.

Der Begriff "generativ" weist auf die erzeugende Eigenschaft des Geistes hin und bringt - endlich! - das Element der Beziehung und des Werdens in die Wissenschaften ein. Es werden keine toten Sachen mehr seziert, sondern es wird der Geist in seiner Tätigkeit versucht zu beobachten und zu beschreiben.

Mich ergeben sich zwei Fragen aus diesen Gedanken:
1.) Was ist die Bedeutung der Unterschiede in Methodik und Randbedingung?
Die Objektivität der Mathematik und die Wiederholbarkeit von Experimenten ist nun mal wesentlich stärker als die Vermutungen der strukturellen Sprachwissenschaft oder der Argumentationslogik zu Werkintention. Kann man daraus in der Naturwissenschaft tatsächlich sicherer auf eine zugrunde liegende "Realität" schließen als in der Literaturwissenschaft auf de Werkintention? Wie sicher sind die jeweiligen Schlüsse?

2.) Was ist mit anderen Geisteswissenschaften?

Gruß
Thomas
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Rembremerding
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#2 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Rembremerding » Mo 20. Apr 2015, 10:13

ThomasM hat geschrieben:2.) Was ist mit anderen Geisteswissenschaften?

Gruß
Thomas
Ich kann hierzu nur etwas vom Randbereich der Literaturwissenschaft beitragen, was die Werksintention betrifft.
Sagen- und Märchenmotive, Fabeln und Legenden treten an verschiedenen Orten oftmals mit kleinen erzählerischen Abweichungen, aber demselben Inhalt auf. Oft werden sie mit lokalen Situationen verknüpft. Dabei liegen die wahren Hintergründe dieser "Geschichten" sehr oft im tiefen Unterbewusstsein des Menschen. Sie bedienen Archetypen und psychische Befindlichkeiten des Menschen, die dann vielleicht in der heutigen Zeit gar nicht mehr gegeben sind oder verstanden werden.
Wenn man Dornröschen betrachtet, liest man ein nettes Märchen oder man erkennt darin die Geschichte von der ersten Menstruation eines Mädchens und dem wachsenden Einfluss des Mannes auf die Frau und noch viel mehr.
Wenn in bestehenden Kirchen und Kapellen in Sagen Pferde verhungerten, dann bedeutet dies, dass sich hier einstmals eine Wotanskultstätte oder eine Kultstätte für die keltische Göttin Epona befand, deren Symboltier das Pferd ist, welche christianisiert wurde.

Die Intention der Autoren solcher Geschichten ist dabei unerheblich, denn im Grunde gibt es keine Autoren.
Dieses Gebiet wird beispielsweise von Ethnologen, Psychoethnologen oder Humangeografen beackert.

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Pluto
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#3 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto » Mo 20. Apr 2015, 16:18

ThomasM hat geschrieben:Was ist mit anderen Geisteswissenschaften?
Literaturforschung, so wie ihr Savonlinna und du es beschreiben hat wohl mehr mit einer erweiterten Form der Hermeneutik zu tun. Dasselbe gilt eigentlich auch für die Bibelforschung.
Daneben gibt es Sprachwissenschaft, Geschichte, Psychologie, Sozialwissenschaft, Kunst, usw.
Gehört nicht die Philosophie ebenfalls dazu?

Ich denke, die Geisteswissenschaften leiden heute unter denselben Problem der "Nicht-Wahrnehmung" durch die allgemeine Bevölkerung, wie auch die Naturwissenschaften. Ist es nicht so, dass die meisten Menschen einfach nicht mehr in der Lage sind, die Ziele und den Zweck wissenschaftlicher Forschung zu verstehen, also baut sich eine allgemeine Abneigung in der Bevölkerung auf. Bei den Geisteswissenschaften ist das Problem der "Unbekanntheit" allerdings noch ernsthafter als bei den Naturwissenschaften.

Was die Wissenschaft insgesamt braucht, ist eine "Lobby" deren Aufgabe es sein sollte, die Bekanntheit im Volk zu fördern.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

ThomasM
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#4 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM » Di 21. Apr 2015, 10:38

Pluto hat geschrieben: Was die Wissenschaft insgesamt braucht, ist eine "Lobby" deren Aufgabe es sein sollte, die Bekanntheit im Volk zu fördern.
Ich denke, das, worum es hier geht, ist nicht so stark ein Problem der Bekanntheit, sondern zuerst ein Problem der Sprache, der Methodik, des innerwissenschaftlichen "Blicken über den Tellerrand".

Sind sich die jeweiligen Wissenschaftler selbst spinnefeind, wird der Kampf um die Ressourcen natürlich über die Bekanntheit entschieden, aktuell durch die stark linkslastige politische Hauptströmung ist der Gewinner vor allem die Soziologie. Das sieht man an den Bemühungen mancher Leute, Dinge wie "Genderwissenschaft" in den Vordergrund zu drängen, obwohl das, womit sich diese Leute beschäftigen für das tägliche Miteinander so etwas von geringfügig relevant ist, dass es schon erstaunt.

Aber gerade an Beispielen wie Genderwissenschaft sieht man sehr schön, wie der Kampf um die Macht nicht durch Wissen, sondern durch Deutungshoheit bei Begriffen gewonnen wird. Erst wenn man hier offen aufeinander zugeht und sich einigt, kann man wieder in den Bereich "Vermehrung von Wissen" kommen.

Gruß
Thomas
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#5 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » Di 21. Apr 2015, 11:10

ThomasM hat geschrieben: 2.) Was ist mit anderen Geisteswissenschaften?
Ich fang hiermit mal an.

Der Begriff "Geisteswissenschaften" ist im Fluss. Die deutschsprachigen Universitäten heute haben nicht immer die gleiche Einteilung von Fakultäten.

Auf der Seite der Uni Hamburg steht:

Als Teil der universitären Wissenskultur umfasst die Fakultät für Geisteswissenschaften diejenigen Fächer, die sich mit den Phänomenen der Artikulation und den Formen der Reflexion menschlichen Lebens auseinandersetzen.
[...]
Die in der Fakultät zusammengefassten Fächer sind in ihrer Geschichte und auf Grund ihres Selbstverständnisses lebendigem Wandel unterworfen
https://www.gwiss.uni-hamburg.de/ueber- ... ltaet.html

Die Uni Hamburg teilt seit 2005 die Geisteswissenschaften in folgende Fachbereiche ein:

Fakultät für Geisteswissenschaften
Evangelische Theologie
Sprache, Literatur, Medien I (SLM I)
Sprache, Literatur, Medien I I (SLM II)
Geschichte (Historisches Seminar)
Philosophie (Philosophisches Seminar)
Kulturgeschichte und Kulturkunde
Asien-Afrika-Wissenschaften (Asien-Afrika-Institut)
Institut für Katholische Theologie
Institut für Jüdische Philosophie und Religion

Über den Daumen gepeilt würde ich sagen:
die Naturwissenschaften beobachten und beschreiben das Wirken der Natur, die Geisteswissenschaften beobachten und beschreiben das Wirken des Menschen.

Heute aber wird mehr in den Blick genommen, dass die Gesellschaft und die Kultur Räume sind, in denen sich lebendiges Leben abspielt, sodass manche Terminologen dazu neigen, diese als Oberbegriff zu nehmen für viele Disziplinen und - vor allem - interdisziplinär zu arbeiten.

Gerade letzteres könnte dazu führen, dass die strenge Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nicht unbedingt mehr aufrecht erhalten werden kann.

Dazu hast Du ja, Thomas, schon ein Beispiel gegeben:
die Modelle der Naturwissenschaft sind vom Menschen geschaffen und als solche im Wandel.
Also ist ein Studium dieser Modelle ein Akt der Geisteswissenschaften.

Hochinteressant fand ich auch, dass unter "Geisteswissenschaften" die Untersuchung von Glaubenssystemen und Glaubensinhalten läuft.
Das befriedigt mich sehr und scheint eine Weiterentwicklung der Rezeptionsforschung zu sein - die damit begann, die Geschichte der Deutungen von literarischen Werken ernst zu nehmen innerhalb der Literaturwissenschaft.

Da Wissenschaft nicht zu werten hat, sondern vorhandene Dinge - wozu Glaubensinhalte selbstverständlich gehören - zur Kenntnis nimmt und einbettet in das anthropologische Verhalten und damit in die Kultur -, ist da noch ein riesiges unbeackertes Feld.

Das wäre jetzt zu Deinem Punkt 2.

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#6 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » Di 21. Apr 2015, 12:33

- Fortsetzung -

Und jetzt ein paar Überlegungen - es sind Vorüberlegungen, Gedanken ins Unreine, tastende Versuche - zu der Frage 1 von Thomas.

ThomasM hat geschrieben: 1.) Was ist die Bedeutung der Unterschiede in Methodik und Randbedingung?
Die Objektivität der Mathematik und die Wiederholbarkeit von Experimenten ist nun mal wesentlich stärker als die Vermutungen der strukturellen Sprachwissenschaft oder der Argumentationslogik zu Werkintention. Kann man daraus in der Naturwissenschaft tatsächlich sicherer auf eine zugrunde liegende "Realität" schließen als in der Literaturwissenschaft auf de Werkintention? Wie sicher sind die jeweiligen Schlüsse?

Ich selber habe Schwierigkeiten mit dem Begriff "Objektivität". Versuche ich jetzt aber mal zu ignorieren.
Auf jeden Fall scheint mir der Dreh- und Angelpunkt in dem System zu liegen, das man sich schafft.
Die Mathematik ist ein System.
Es gibt aber jede Menge anderer Systeme, mit denen das gleiche Objekt erfasst werden kann.
Bilde ich ein - einfaches - System und teile alles, was es gibt, in "essbar" und "nicht-essbar" ein, dann gibt es - scheinbar - objektive Fakten.

Ein Tisch ist nicht essbar, ein Apfel aber schon. Da gibt es also die Antworten "richtig" und "falsch".
"Richtig" und "falsch" ist also hier die Übereinstimmung zwischen meinem Einteilungskriterium und dem daraufhin untersuchten Ding.

Ist der Tisch aber zufällig aus Marzipan und der Apfel aus Marmor, dann stimmt das schon wieder nicht und man muss die Definitionen präziser fassen. Immer aber ist es ein Auswahlkriterium des Menschen und insofern subjektiv.

Wichtig darum ist dabei, nach welchem Maßstab man die Auswahlkriterien wählt.
Ist es für das Allgemeinwohl des Menschen wichtig, ob ich das unterscheide, oder nicht?

Bei Pilzen kann das - wenn man das Unterscheidungskriterium ein bisschen anders deutet - für das Allgemeinwohl sehr wichtig sein, dass man nicht-essbare Pilze - sie sind natürlich essbar von der Möglichkeit her, aber sie sollten nicht gegessen werden - als solche identifizieren kann.

Und so kann ich auch Menschen in Atheisten und Nicht-Atheisten einteilen.
In dem Moment, wo man solche naturwissenschaftlichen Einteilungen auf Menschen überträgt, gerät man in Minengebiet.
Salome hat das gerade im Gehirn-Thread angedeutet.

Nicht mal der Pilz erschöpft sich darin, giftig oder nicht-giftig zu sein. Es ist nur wichtig für den Magen des Menschen, damit der Mensch gesund oder gar am Leben bleibt.

Aber wozu ist es notwendig, Menschen in Atheisten und Nicht-Atheisten einzuteilen? Wer hat davon einen Nutzen?
Wer hat davon einen Nutzen, Menschen in Germanen und Nicht-Germanen einzuteilen?

Einteilungen haben immer einen Zweck, auch wenn man ihn verschweigt oder darüber nicht nachdenkt.
Und das wäre etwas Gemeinsames bei den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften.
Und Zwecke sind nichts Objektives.

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#7 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM » Di 21. Apr 2015, 15:56

Hallo Savolinna

Ich versuche mal, ein paar Punkte aufzugreifen
Savonlinna hat geschrieben: Ich selber habe Schwierigkeiten mit dem Begriff "Objektivität". Versuche ich jetzt aber mal zu ignorieren.
Auf jeden Fall scheint mir der Dreh- und Angelpunkt in dem System zu liegen, das man sich schafft.
Die Mathematik ist ein System.
Es gibt aber jede Menge anderer Systeme, mit denen das gleiche Objekt erfasst werden kann.
Bilde ich ein - einfaches - System und teile alles, was es gibt, in "essbar" und "nicht-essbar" ein, dann gibt es - scheinbar - objektive Fakten.
So, wie ich es verstehe, ist das, was du als "System" verstehst, zunächst einmal eine Menge von Begriffe, für die gilt
1.) Ich definiere sie innerhalb meines Systems. Dabei bediene ich mich einer Sprache, eventuell auch einer formalen Sprache.
2.) Ich definiere dabei Eigenschaften der Dinge (ist das Ding essbar?), eventuell sogar die Dinge selbst (was ist ein Tisch?)

Damit ist das System erst einmal statisch, das heißt dient der Klassifizierung, der Einteilung.
Die Definitionen sehe ich erst einmal als das, also Definitionen, nicht als Fakten (man müsste noch überlegen, was ein Fakt ist)
Wie du korrekt betont hast, beinhalten die Definitionen bereits Auswahlkriterien, und - meiner Meinung nach - immer auch Vereinfachungen. Das heisst, wenn zwei Dinge gemäß der Definitionen in ein und dieselbe Menge fallen, kann das nicht mehr der Fall sein, wenn ich die Definition verfeinere.
Beispiel: Ein Tisch ist ein Ding mit vier Beinen. Dann wäre auch eine Katze ein Tisch

Ich stimme dir auch darin zu, dass Auswahlkriterien meist einen Hintergedanken haben, einen Zweck.
Darin liegt für mich der Grund, Definitionen nicht als objektiven Fakt zu bezeichnen, denn man kann andere Definitionen bevorzugen.
Wir können aber sagen, dass die Definitionen objektiv sind, wenn sie strukturell, sprachlich und logisch von verschiedenen Menschen nachvollzogen werden können.
Insbesondere, wenn man den Zweck nennt, auf dem die Auswahlkriterien beruhen

Aber eines fehlt mir hierbei noch:
Definitionen / Einteilungen sind etwas Statisches. Sie dienen der Kategorisierung, das ist zumindest ein Anfang.

Aber wenn ich Wissenschaft betreiben will, dann muss ich in der Lage sein, Schlussfolgerungen zu ziehen. Es muss mir also möglich sein, aus den Definitionen Folgerungen zu ziehen und Zusammenhänge zu formulieren. Ich brauche Dynamik.

Hier ist der extreme Vorteil der Mathematik. Ausgehend von einer sehr geringen Menge an Definitionen, kann ich über die klar definierten Mechanismen des logischen Schließens eine unglaubliche Zahl von Schlussfolgerungen ziehen.
Diese sind innerhalb dieses Systems objektiv, d.h. jeder der mit den Grundlagen (Axiomen) übereinstimmt muss zwangsläufig zu denselben Schlußfolgerungen kommen. Das Ergebnis ist unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht und Kultur.

Bei den Naturwissenschaften wird das benutzt, indem man seine Modelle mit Mathematik formuliert. Natürlich ist das Aufstellen der Modelle von den Absichten / dem Zeitverständnis / der Kultur usw. des Wissenschaftlers abhängig, danach aber sind die Schlussfolgerungen streng objektiv, da mit Mathematik erreicht.

Bei den Geisteswissenschaften sehe ich zwar auch, dass über Argumentation versucht wird, z.B. Schlussfolgerungen über ein Werk oder die Autorenintention zu ziehen, aber die Strenge des Folgerns scheint mir nicht gegeben. Hier scheint mir die Art der Argumentation auch sehr stark von den Absichten des Analysten abzuhängen.

Gruß
Thomas
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#8 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » Mi 22. Apr 2015, 10:30

Hallo Thomas,

ich sammele erst mal, was wir offenbar gleich oder ähnlich sehen:

ThomasM hat geschrieben:Wie du korrekt betont hast, beinhalten die Definitionen bereits Auswahlkriterien, und - meiner Meinung nach - immer auch Vereinfachungen.
Genau, die Definitionen beinhalten Vereinfachungen. Das stimmt auch in folgendem Fall:
"Der Mensch ist ein Allesfresser" ist keine Definition von "Menschsein", sondern nur ein Aspekt, der sich auf seine Nahrungswahl bezieht.
Genauso kann ich alle Menschen nach Wuchsgröße einteilen, ohne dass damit in irgendeiner Weise etwas über das "Menschsein" ausgesagt wird. Die Menschen werden also nicht auf der Basis ihrer Wuchsgröße bewertet.

Ich betone das deshalb so, weil manche naturwissenschaftlichen Fans da übergriffig werden und meinen, die Definition "Der Mensch ist ein Tier" z.B. wäre eine "Erkenntnis", die es erlaube, das Wesen des Menschen durch das Wesen des Tieres zu erklären.
Dabei ist es nichts weiter als eine Klassifizierung auf der Basis gewisser Eigenschaften. Die Behauptung dann, der Mensch wäre nur ein Tier, verlässt vollkommen den naturwissenschaftlichen Boden.

ThomasM hat geschrieben:Ich stimme dir auch darin zu, dass Auswahlkriterien meist einen Hintergedanken haben, einen Zweck.
Darin liegt für mich der Grund, Definitionen nicht als objektiven Fakt zu bezeichnen, denn man kann andere Definitionen bevorzugen.
Und man muss noch nicht einmal definieren.
Zentral dabei scheint mir zu sein, dass man in der Naturwissenschaft nie eine Wesenheit in ihrer Gesamtheit "definiert". Sondern immer nur eine einzelne Kategorie, in die man etwas einsortiert.
Ein Mensch kann also mittels einer Definition über die Hautfarbe beispielsweise in "dunkelhäutig" oder "weißhäutig" einsortiert werden, aber eben nur unter diesem einzelnen Aspekt. Unabhängig von diesem Aspekt ist diese Klassifizierung irrelevant. Sie deutet nicht das Wesen "Mensch".

Das Ideologische rutscht da schnell durch die Hintertür rein. Vor allem in der unseligen Behauptung, die Naturwissenschaft hätte "bewiesen", dass der Mensch ein Tier ist. Da wird der Boden der Wissenschaft regelrecht unterhöhlt für ideologische Zwecke.


ThomasM hat geschrieben:Aber eines fehlt mir hierbei noch:
Definitionen / Einteilungen sind etwas Statisches. Sie dienen der Kategorisierung, das ist zumindest ein Anfang.

Aber wenn ich Wissenschaft betreiben will, dann muss ich in der Lage sein, Schlussfolgerungen zu ziehen. Es muss mir also möglich sein, aus den Definitionen Folgerungen zu ziehen und Zusammenhänge zu formulieren. Ich brauche Dynamik.

Hier ist der extreme Vorteil der Mathematik. Ausgehend von einer sehr geringen Menge an Definitionen, kann ich über die klar definierten Mechanismen des logischen Schließens eine unglaubliche Zahl von Schlussfolgerungen ziehen.
Diese sind innerhalb dieses Systems objektiv, d.h. jeder der mit den Grundlagen (Axiomen) übereinstimmt muss zwangsläufig zu denselben Schlußfolgerungen kommen. Das Ergebnis ist unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht und Kultur.

Bei den Naturwissenschaften wird das benutzt, indem man seine Modelle mit Mathematik formuliert.
Aber die Mathematik ist ein in sich geschlossenes System, die Naturwissenschaft nicht.
Wenn mathematische Gesetze einmal definiert sind, dann kommt keine Historie mehr rein, keine frische Luft, keine störende Realität.
Naturwissenschaft findet aber zu einem großen Teil in der lebendigen Umwelt statt, die man nicht mehr definieren kann. Man muss sie erforschen.

Man kann nicht definieren, was man noch gar nicht untersucht hat. Man definiert, was man untersuchen will und hält das möglichst klein: zum Beispiel die Farben der Schmetterlinge.
Will man - so wie Du schreibst - daraus Schlussfolgerungen ziehen, dann ist das meines momentanen Verstehens nach nicht mehr mathematisierbar.
Schlussfolgerungen sind mir hier im Moment nur denkbar, indem man sich fragt: "Warum ist dieser Schmetterling gelb, warum der andere nicht". Aber solche Schlussfolgerungen sind auch in der Naturwissenschaft Interpretation, denke ich. Ist in meinen Augen nicht mathematisierbar.
Vielleicht habe ich ja auch was falsch verstanden.

ThomasM hat geschrieben:Bei den Geisteswissenschaften sehe ich zwar auch, dass über Argumentation versucht wird, z.B. Schlussfolgerungen über ein Werk oder die Autorenintention zu ziehen, aber die Strenge des Folgerns scheint mir nicht gegeben. Hier scheint mir die Art der Argumentation auch sehr stark von den Absichten des Analysten abzuhängen.
Ich sehe eben die Strenge des Folgerns auch bei den Naturwissenschaften nicht, siehe das Beispiel mit den Schmetterlingsfarben.

Klar gibt es vielleicht Gebiete, wo man "strenger" folgern kann:
das Aussterben der Schmetterlinge hängt mit unseren dauernd gemähten Wiesen zusammen.
Das ist relativ eindeutig, denn seit man - in Hamburg - die Wiesenränder an den Straßen nur noch selten mäht, haben wir da wieder Schmetterlinge rumflattern. Dennoch ist das für mich nicht mathematisierbar.

Entschuldige mein etws laienhaftes Rangehen an die Sache.

Auf jeden Fall scheinen mir die Resultate empirischer Forschung zumindest verwandt zu sein bei der Natur- und bei der Geisteswissenschaft.
Beide können zu Resultaten kommen, aus denen man etwas kausal oder final zu folgern versucht.
In der Mathematik kommt das gar nicht vor. Da hängen die Dinge nicht kausal zusammen, sondern rein logisch.

Vielleicht kann man eine Art Stufenfolge aufstellen:
je komplexer der untersuchte Gegenstand, desto schwieriger, eindeutige Schlussfolgerungen - die ich einfach mal mit "Erklärungsversuchen" oder Versuchen, Zusammenhänge zu sehen, gleichsetze - zu ziehen.

Wenn ich die Rate der Todesstrafen erhöhe, kann ich nicht "schlussfolgern", dass die Verbrechen reduziert werden.

Darum meine vorläufige These, dass "Schlussfolgerungen" in allen empirischen Wissenschaften Teil der Geisteswissenshaft sind.

ThomasM
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#9 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM » Mi 22. Apr 2015, 12:41

Hallo Savonlinna

Ich bin überrascht, wieviele Gemeinsamkeiten wir hier feststellen. Das ist für mich durchaus eine neue Erfahrung im Gespräch mit Geisteswissenschaftlern :D
Savonlinna hat geschrieben: Aber die Mathematik ist ein in sich geschlossenes System, die Naturwissenschaft nicht.
Wenn mathematische Gesetze einmal definiert sind, dann kommt keine Historie mehr rein, keine frische Luft, keine störende Realität.
Hier stimme ich dir im Prinzip zu, allerdings gibt es immer wieder Erweiterungen in der Mathematik, wo durch den Beweis von alten Vermutungen verschiedene Gebiete der Mathematik miteinander gekoppelt werden.
Dadurch kommen neue Aspekte auch in alte Gebiete hinein, wobei die Erkenntnisse der alten Gebiete erhalten bleiben.

Savonlinna hat geschrieben: Naturwissenschaft findet aber zu einem großen Teil in der lebendigen Umwelt statt, die man nicht mehr definieren kann. Man muss sie erforschen.

Man kann nicht definieren, was man noch gar nicht untersucht hat. Man definiert, was man untersuchen will und hält das möglichst klein: zum Beispiel die Farben der Schmetterlinge.
Will man - so wie Du schreibst - daraus Schlussfolgerungen ziehen, dann ist das meines momentanen Verstehens nach nicht mehr mathematisierbar.
Schlussfolgerungen sind mir hier im Moment nur denkbar, indem man sich fragt: "Warum ist dieser Schmetterling gelb, warum der andere nicht". Aber solche Schlussfolgerungen sind auch in der Naturwissenschaft Interpretation, denke ich. Ist in meinen Augen nicht mathematisierbar.
Vielleicht habe ich ja auch was falsch verstanden.
Hier sind wir an einem wichtigen Punkt. Ich gebe das mal für die Naturwissenschaften als "Forschungsprogramm" wieder. Da wird dann auch deutlich, wo ich von deiner Ansicht abweiche.

1.) Zunächst definiert der Naturwissenschaftler sein Forschungsthema, also was er untersuchen will.
Das ist tatsächlich sehr subjektiv, hängt mit den Erfahrungen, Vorlieben des Wissenschaftlers, der Kultur und der Zeit zusammen.
Das kann klein sein, muss aber nicht.
Man kann z.B. das Forschungsgebiet "die Weltformel" haben, wahrlich kein kleines Gebiet. Oder man beschränkt sich und hat das Thema "Farben der Schmetterlingsflügel". Oft sind auch ganz bestimmte Teilaspekte das Ziel, z.B. "woher kommen die Farben der Flügel" oder "was bewirken die Farben der Flügel"
Diese Definitionsarbeit an sich ist nicht mathematisierbar, sie ist die Basis, der Startpunkt.

2.) Jetzt kommt ein in der Naturwissenschaften entscheidender Schritt. Der Naturwissenschaftler wählt / bildet ein Modell.
Die Modellbildung ist essentiell. Sie bedeutet die Abbildung des Forschungsthemas auf eine formale Beschreibung. Sehr oft sind bei der Bildung des Modells auch Näherungen einbezogen.
Beispiele:
a.) Ich will die Weltformel dadurch bilden, dass ich mir vorstelle, alle Elementarteilchen sind aus Strings zusammengesetzt, die in 11 Dimensionen leben. Dazu gibt es diese und jene Gleichung, die solche Objekte beschreiben. Ich will prüfen, ob diese Formel meine Weltformel ist
b.) Ich will das Fallen des Mondes um die Erde mit dem Fallen eines Objektes auf der Erde vergleichen. Dazu vernachlässige ich die Reibung der Luft. Ich wähle die Newtonsche Kraftformel als Modell.
c.) Ich will wissen, woher die Farben der Schmetterlinge kommen, Dazu nehme ich an, dass diese vererbt werden. Ich werde also nach einem DNA Abschnitt im Erbgut suchen und einer chemischen Reaktionskette, die die Farbmoleküle in den Flügeln erzeugen.
d.) Ich will wissen, welche Wirkung die Farben von Schmetterlingen haben. Also prüfe ich, wie die Farbwahrnehmung der Tiere ist und welche Auswirkung Farbe auf das Paarungsverhalten hat.

In der Physik ist die Modellbildung fast immer eine Abbildung auf mathematische Formeln. In anderen Naturwissenschaften sehr oft auch, allerdings etwas verdeckt durch andere formale Methoden.

3.) Habe ich das Modell, dann habe ich mein Problem "mathematisiert". Mit Hilfe der Mathematik kann ich jetzt objektive Schlussfolgerungen ziehen, die unabhängig von Vorlieben, Kultur und Zeit sind.

4.) Ich prüfe die Schlussfolgerungen mit Hilfe von Experimenten. Stimmen Schlussfolgerung und Experiment überein, dann ist das Modell "gut" in dem Sinn, dass es die Natur gut beschreibt. Ist das nicht der Fall, dann ist das Modell nicht gut und muss verändert / erweitert werden.

Die siehst, 1 und 2 sind ganz oder teilweise den Vorlieben und Randbedingungen des Naturwissenschaftlers unterworfen. 3 und 4 sind streng objektiv. Dadurch, dass die Naturwissenschaft immer größere und immer stärker zusammenhängende Modelle bildet, wird das erzeugt, was sich bei Pluto und Co zeigt: Das Gefühl eines stetigen Fortschritts, in dem die Unbekannten immer kleiner werden.

Savonlinna hat geschrieben: Ich sehe eben die Strenge des Folgerns auch bei den Naturwissenschaften nicht, siehe das Beispiel mit den Schmetterlingsfarben.

Klar gibt es vielleicht Gebiete, wo man "strenger" folgern kann:
das Aussterben der Schmetterlinge hängt mit unseren dauernd gemähten Wiesen zusammen.
Das ist relativ eindeutig, denn seit man - in Hamburg - die Wiesenränder an den Straßen nur noch selten mäht, haben wir da wieder Schmetterlinge rumflattern. Dennoch ist das für mich nicht mathematisierbar.
Die Strenge gilt im Sinne der Punkte 3 und 4 oben, also innerhalb des Modells.
Dinge, die das Modell nicht erfasst (bewusst oder unbewusst), bleiben außen vor.

Savonlinna hat geschrieben: Darum meine vorläufige These, dass "Schlussfolgerungen" in allen empirischen Wissenschaften Teil der Geisteswissenshaft sind.
Das kommt darauf an, was du unter "Schlussfolgerungen" verstehst.
Innerhalb eines Modells im Sinne des Prozesses, den ich oben beschrieben habe, nein.

Willst du aber eine Gesamtschau haben, also auch die Konsequenzen auf unser Leben, die Aspekte von Schönheit oder Nützlichkeit usw. dann werden naturwissenschaftliche Modelle mit Dingen verbunden, die nicht-naturwissenschaftlich sind. Dabei sind die Übergänge durchaus fließend.

Nehmen wir beispielsweise die Frage "Welche Konsequenzen sind aus dem Klimawandel zu ziehen"
Hier stechen wir in ein Wespennest.
Zunächst einmal sind die Modelle nicht wirklich gut, beleuchten oft nur Teilaspekte und es gibt eine heiße Diskussion, ob gewisse Näherungen berechtigt sind oder nicht. Hier haben wir bereits eine nicht-objektive Komponente.
Die Antworten variieren von "Alle Modelle sind nichtssagend" bis hin "die Modelle geben die Realität gut wieder".
Innerhalb der jeweiligen Modelle ist alles schön berechnet und objektiv, die Diskussion dreht sich darum, ob die Modelle gut sind.

Akzeptiert man ein Modell, dann ist die Frage, was politisch zu tun ist, eine vollkommen nicht-naturwissenschaftliche. Das reicht von "Umverteilung reich-> arm", über "Beendet Forschung und Technologie" bis hin zu "es ist eh alles zu spät". Die Antwort kannst du alleine am politischen Label ablesen und ist völlig unabhängig von der Fragestellung.

In den Diskussionen in diesem Forum sieht man sehr gut, dass den Naturwissenschaftlern zwar vollkommen klar ist, dass sie diese Aspekte des Lebens niemals werden erfassen können, das wird aber geflissentlich ignoriert, weil man sich mit der Antwort "das ist alles die Konsequenz von Gehirnkonfigurationen, die eine Konsequenz des chemischen Computers Mensch sind" zufrieden gibt.

Gruß
Thomas
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Savonlinna
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#10 Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna » Do 23. Apr 2015, 11:39

Hallo Thomas!

ThomasM hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Aber die Mathematik ist ein in sich geschlossenes System, die Naturwissenschaft nicht.
Wenn mathematische Gesetze einmal definiert sind, dann kommt keine Historie mehr rein, keine frische Luft, keine störende Realität.
Hier stimme ich dir im Prinzip zu, allerdings gibt es immer wieder Erweiterungen in der Mathematik, wo durch den Beweis von alten Vermutungen verschiedene Gebiete der Mathematik miteinander gekoppelt werden.
Dadurch kommen neue Aspekte auch in alte Gebiete hinein
Ja, das weiß ich eigentlich. Es gibt auch eine Geschichte der Mathematik. Meine Aussage war etwas enger gemeint, es ging mir nur um den Unterschied im Wesen von Mathematik und empirischer Forschung.


Im Folgenden schneidest Du ein Thema an, das für mich schwierig und zugleich hochinteressant ist, weil ich da auch innerhalb der heutigen Geisteswissenschaften - wobei ich mich da im Moment nur auf die Literaturwissenschaft beziehe - Tendenzen feststelle, die manche unter "Wissenschaft" laufen lassen, weil sie (in meinen Augen) der Naturwissenschaft entlehnt sind, das Wesen von Literatur damit aber verfehlen.
Die das tun, sind allerdings meist keine Profis innerhalb der Literaturwissenschaft, oder sind es nur halbherzig (wieso, sage ich weiter unten); ich wollte das schon länger mal versuchen, mehr auf den Punkt zu kriegen, was da aus dem Ruder läuft. Vielleicht ist das ja jetzt die Gelegenheit dazu, weil Du genau diese Methode - die ich für die Literaturwissenschaft nicht tragbar halte - im Folgenden bezüglich der Naturwissenschaft zu beschreiben scheinst.

Also, los geht's.

Ich fasse Deine Ausführungen bezüglich Physik kurz zusammen:
Erst Definition des Forschungsthemas, dann Abbildung des Forschungsthemas auf ein Modell mittels mathematischer Formeln.
Dann werden "Schlussfolgerungen" aus dem mathematisierten Modell gezogen, die mit Experimenten überprüft werden.

Richtig konkret vorstellen kann ich mir das nicht in allen Bereichen, und ich hätte da auch Fragezeichen bei anderen Naturwissenschaften wie Biologie, die sich ja auch mit dem Leben befasst. Oder Hirnforschung, die ja auch keine tote Masse untersucht, sondern ein lebendiges Organ.
Ich habe da ein gewisses Unbehagen, das ich allerdings noch am ehesten formulieren könnte, wenn solche den Naturwissenschaften entlehnte Methoden auf dichterische Literatur oder überhaupt Texte angewendet wurden.

Das werde ich im Folgenden versuchen, wobei sich dann aber möglicherweise offenbart, dass ich Deine Ausführungen dann doch nicht so komplett verstanden habe.
Mein „Unbehagen“ oder „ungutes Gefühl“ jedenfalls betrifft das Herausbrechen bzw. Isolieren eines Elementes aus dem Zusammenhang, ohne dass dieser Zusammenhang mit in die Untersuchung eingeht.

Ich werde erst einmal ein Beispiel aus der Untersuchung von Literatur bringen und dann dazu eines Deiner Beispiele aus der Physik damit zu parallelisieren suchen.

Untersuchung von Literatur:
Es ist inzwischen sehr verbreitet, dass auch Fachfremde literarishe Texte aus ihrem speziellen Fachgebiet heraus untersuchen.

So hatte ein katholischer Theologiestudent sich die Frage gestellt, ob J.R.R. Tolkiens literarisches Werk ein „fundamental katholisches Werk“ sei (Tolkien selber war katholisch).
Der Student ging dabei folgendermaßen vor:
Er stellte bestimmte katholische Glaubenssätze vor und suchte mit diesem „Modell“ das literarische Werk Tolkiens ab und „stellte dann fest“, dass vieles in dem literarischen Werk dem katholischen Denken entspräche.
Ergebnis: Ja, Tolkiens literarisches Werk ist ein fundamental katholisches Werk.

Was ich an dieser „Methode“ ablehne, ist: dass man ein Netz über ein Werk wirft und das einfängt, was dem entworfenen Modell entspricht. Alles andere geht durch das Netz durch, wird automatisch aussortiert. Was also theoretisch gegen die Bejahung der gestellten Frage spräche, kommt gar nicht in den Blick.

Und da vor allem das nicht, was auch ein Wesen von dichterischen Werken ist: dass sie sich durch innere Zusammenhänge auszeichnen. Kein Element des Werkes ist als isoliertes Element beschreibbar, es ist immer Teil eines Gefüges.
So wie im Sprachsystem das Prädikat nicht begriffen werden kann, wenn man es nicht in Zusammenhang mit allen anderen Satzteilen sieht – und ein Wort nicht begriffen werden kann, wenn man es nicht in Zusammenhang der Wörter sieht, von denen es sich bewusst abhebt oder deswegen gar nur gebildet wurde.

Zusammengefasst:
Die „Modellbildung“ – also die Entscheidung, das Forschungsthema in einer bestimmten Weise auf eine formale Beschreibung abzubilden (wie Du es oben bei der Physik beschreibst) – steuert bereits das Ergebnis.

Das könnte eben auch in den Naturwissenschaften der Fall sein – besonders in der Biologie und der Gehirnforschung, wie ich schon sagte.

Aber ich nehme jetzt eines Deiner Beispiele:

ThomasM hat geschrieben:c.) Ich will wissen, woher die Farben der Schmetterlinge kommen, Dazu nehme ich an, dass diese vererbt werden. Ich werde also nach einem DNA Abschnitt im Erbgut suchen und einer chemischen Reaktionskette, die die Farbmoleküle in den Flügeln erzeugen.
Es wird also erst einmal „angenommen“, dass die Farben vererbt sind, und es wird untersucht, ob sie vererbt sind.
Ist das Ergebnis positiv, dann, so scheint es mir, ist die Frage „woher die Farben der Schmetterlinge kommen“, für den Naturwissenschaftler beantwortet.
Möglicherweise habe ich das falsch verstanden.
Aber ich kann daran demonstrieren, dass in meinen Augen keineswegs nachgewiesen wird, dass nur daher die Farbe der Schmetterlinge kommt. Es wurde ja nur die Frage untersucht, ob die Farbe vererbbar ist – und nicht, woher die Farbe „kommt“.

Das heißt: Zumindest wenn ich diese Methode auf Literatur anwende, kann ich genau da eine Lücke feststellen, ein analagon zu der „Abbildung des Forschungsthemas auf eine formale Beschreibung“.
In Wirklichkeit ist es ja – offenbar auch in den Naturwissenschaften – keine wirkliche Abbildung, sondern das Herausgreifen eines überprüfbaren und schon bekannten Aspektes.

Ein wenig erinnert mich das an die behavioristische Pschologie und Pädagogik, die zum Beispiel Fragen wie „Wann ist ein Kind sehr begabt in Musik“ für die Beantwortung quantifziert:
Da man nicht weiß, wie man „musikalische Begabung“ messen soll, macht man sie messbar; man sagt: Ein Kind ist dann sehr musikalisch, wenn es mehr als zwei Stunden pro Tag an einem Musikinstrument übt.“ Oder: „Wenn es mehr als zwei Instrumente lernt“. Oder wenn es in Musik mindestens eine „2“ hat.

Aber das, was messbar ist, sagt eben nur etwas über diese konkrete Fragestellung aus:
Dass ein Kind halt so und so lange täglich Klavier übt. Und nichts über die ursprüngliche Frage, ob das Kind „sehr begabt in Musik sei“.
Da klafft eben eine Lücke, in die haargenau Ideologisches einschlüpfen kann.

Und das sagst Du letztlich ja ganz ähnlich:

ThomasM hat geschrieben: Innerhalb der jeweiligen Modelle ist alles schön berechnet und objektiv, die Diskussion dreht sich darum, ob die Modelle gut sind.
Ja. Und das kann man möglicherweise griffiger kriegen, wenn man dieses Modell nicht mit dem ursprünglichen Forschungsthema identifziert.
Bzw. auseinanderklamüsert, dass da ein unlogischer Sprung gemacht wurde, der in der Wissenschaft eigentlich nicht vorkommen darf.


Wie ich sehe, müsste eigentlich auch die Naturwissenschaft zwischen "Methode" und "Deutung" unterscheiden.
Nicht also nur kommt das Persönliche in der Wahl des Forschungsthemas hinein - wo es ja auch hineinkommen darf -, sondern auch in der Reduzierung einer größeren Fragestellung auf eine andere, quantifizierbare und erforschbare.

In der Ideologiekritik kann ich nachweisen, dass das zwei verschiedene Fragestellungen sind - "warum gibt es gelbe Schmetterlinge" und "wird die gelbe Farbe vererbt". Und die Antwort auf die zweite Frage ist nicht die Antwort auf die erste Frage.
Reduziert man aber die erste Frage auf die zweite und behauptet, damit sei auch Frage eins beantwortet: dann ist das ideologiekritisch beschreibbar und nachweisbar, dass dies nicht den Regeln der Wissenschaft entspricht.

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