sven23 hat geschrieben: ↑Sa 20. Jul 2019, 19:08
Die Mathematik nimmt unter den Wissenschaften eine Sonderstellung ein und gehört zu den Formalwissenschaften.
Wenn man die Theoretische Informatik o. ä. nicht nur als Unterdisziplin der Mathematik betrachtet, ist es allerdings nicht die einzige der Formalwissenschaften (warum sonst auch Plural?). D.h. nicht die einzige Wissenschaft mit Sonderstellung.
In einer nicht von Closs-Unfug dominierten Debatte, würde man jetzt
genau auf das Verhältnis Mathematik–Naturwissenschaft schauen. Denn Mathematik ist sehr eigenartig in dem Sinn, dass sie sich auf spezielle Art auf die Sinnenwelt bezieht aber nicht direkt durch Beobachtungen in derselben falsifizierbar ist.
Wenn man z. B. 48 ml Wasser mit 52 ml Ethanol vermischt ergibt sich ein Volumen von 96,3 ml. Das falsifiziert natürlich nicht 48 + 52 = 100, sondern weist auf einen chemischen/physikalischen Effekt hin, den es zu erklären gilt. Allerdings ist die Mathematik wohl sicher nicht komplett losgelöst von der Sinnenwelt, d. h. nur eine rein theoretische Maschinerie, eine bloße Hilfs“wissenschaft”, um aus einer physikalischen Formel eine andere abzuleiten. Sonst würde man bei der Mischung von Wasser mit Ethanol ja nur mit den Schultern zucken und sagen
“hier lässt sich halt die Mathematik nicht anwenden, das ist nicht weiter erstaunlich”. Genau das tut man eben nicht, sondern die Abweichung von der mathematischen “Vorhersage” (Anführungszeichen!) liefert einem einen entscheidenden Hinweis. Würde man solche Hinweise ignorieren, würde man ws. nie zu einer naturwissenschaftlichen Theorie gelangen. Die exakten Naturwissenschaften und die Mathematik scheinen also aufs engste miteinander verwoben zu sein. Und in jeder seriösen Diskussion zum Thema “was ist Wissenschaft” – also die sich nicht auf Plattitüden und Unfug der Marke closs reduziert –
darf das nicht übergangen werden.
Die Trennung deduktiv / induktiv ist daher mMn eine Illusion. Auch Mathematik ist mMn nicht rein deduktiv. Die Vorstellung wirkt nur plausibel wenn man anachronistisch rangeht. Sicher, in der hochformalisierten modernen Mathematik sind Axiome + Schlussregeln so präzise definiert, dass sie sich auf Zeichenkettentransformationen anhand von Regeln (Kalkül) reduzieren lässt – und damit die Überprüfung eines mathematischen Beweises zur mechanischen Aufgabe wird und sogar einem Computer übergeben werden kann. Aber die Grundlagen der Mathematik wurden uns nicht in dieser Form von Engeln mit der Garantie auf Konsistenz übermittelt.
Es benötigt einiges an Erfahrung um zu den Axiomen zu gelangen. Von Cardanos wahrscheinlichkeitstheoretischem
Buch über das Würfelspiel (1663) bis zu den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie von Kolmogorov (1933) war es bspws. ein mühsamer Weg. Die menschliche Vernunft ist erstaunlicherweise in der Lage von endlich vielen Einzelbeispielen zu allgemeinen Einsichten zu gelangen. Und besonders viel Erfahrung in mathematischer Praxis ist notwendig, damit man zu
konsistenten Axiomen kommt und auch tatsächlich die richtigen Konzepte (viele davon welche, die wir direkt anwenden um die Wirklichkeit zu strukturieren) mit diesen “trifft”. Wobei die Erfahrung in der Mathematik natürlich völlig anderer Natur ist als z. B. bei einfachen Erfahrungssätzen über die Sinnenwelt (z. B. dass die Sonne im Osten aufgeht). In letzterem Fall ist die Erfahrung auch gleichzeitig die Rechtfertigung, im ersteren Fall nicht – sondern befördert nur die Vernunfteinsicht.
sven23 hat geschrieben: ↑Sa 20. Jul 2019, 19:08
Im Gegensatz zu religiösen Dogmen darf die Mathematik für sich beanspruchen, wirklich endgültige und allgemeingültige Wahrheiten zu verkünden, wenn ein mathematischer Satz durch eine streng logische Beweisführung zustande kam.
Wobei dafür die Axiome konsistent sein müssen. Wenn jemand drei natürliche Zahlen x, y, z findet mit
x²³ + y²³ = z²³ … was dann? Damit wäre gezeigt, dass die Axiome der Zahlentheorie inkonsistent sind!