"Der Gast" von Paul Celan

Literatur, Malerei, Bildhauerei
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Thaddäus
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#1 "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Thaddäus » Mo 23. Sep 2013, 21:39

Ich liebe den deutschen Dichter Paul Celan (ich liebe auch den Franzosen Albert Camus und seinen Le Mythe de Sisyphe).

Besonders liebe ich das Gedicht Celans, Der Gast von 1952:

Der Gast

Lange vor Abend
kehrt bei dir ein, der den Gruß getauscht mit dem Dunkel.
Lange vor Tag
wacht er auf
und facht, eh er geht, einen Schlaf an,
einen Schlaf, durchklungen von Schritten:
du hörst ihn die Fernen durchmessen
und wirfst deine Seele dorthin.


Als ich dieses Gedicht zum ersten Mal mit 15 Jahren las, wurde ich sofort sehr traurig, war aber gleichtzeitig fasziniert. Seitdem beschäftigt mich dieses Gedicht im Herzen.
Für mich ist dieser Gast der Tod.
Der Argentinier tendiert nicht zur Schwermut. Vielleicht ist es auch nur das Erbe meiner deutschen Mutter.
Aber wenn ich einmal sterbe, dann werde ich an dieses Gedicht denken. Dessen bin ich mir sicher.

Seht auch ihr in diesem Gast den Tod?

closs
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#2 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von closs » Mo 23. Sep 2013, 22:07

Schwer. - Die Stimmung ist eindeutig - ob es der Tod selbst ist, weiß ich nicht. - Denn der letzte Satz spräche dagegen: Man wirft die Seele nicht dorthin, wo der Tod in der Ferne ist.

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Thaddäus
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#3 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Thaddäus » Mo 23. Sep 2013, 22:17

closs hat geschrieben: Man wirft die Seele nicht dorthin, wo der Tod in der Ferne ist.
Und wenn man sterben will?

Nicht, weil man ein Selbstmörder ist, sondern eher, weil man fühlt, dass die Zeit, - vielleicht weil man alt und und gebrechlich und einfach lebenssatt geworden ist, - jetzt gekommen ist; - und - man - gehen - muss? !

Catholic
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#4 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Catholic » Mo 23. Sep 2013, 22:26

Der Gedanke erinnert mich an die Ars moriendi,die "Kunst zu sterben",wie sie im Hochmittelalter ein feststehender Begriff war,weil die Menschen überzeugt war,dass es nicht nur wichtig war zu leben,sondern auch richtig vorbereitet zu sterben.

Thaddäus hat geschrieben: ...
Nicht, weil man ein Selbstmörder ist, sondern eher, weil man fühlt, dass die Zeit... jetzt gekommen ist; - und - man - gehen - muss? !

closs
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#5 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von closs » Mo 23. Sep 2013, 23:27

Thaddäus hat geschrieben:Und wenn man sterben will?
Ja - aber hier nicht im Sinne von "Es ist Zeit, das Leben war sehr groß", sondern eher depressiv. Also Tod aus Bedrohung und nicht aus Erfüllung.

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Thaddäus
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#6 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Thaddäus » Mo 23. Sep 2013, 23:39

Catholic hat geschrieben:Der Gedanke erinnert mich an die Ars moriendi,die "Kunst zu sterben",wie sie im Hochmittelalter ein feststehender Begriff war,weil die Menschen überzeugt war,dass es nicht nur wichtig war zu leben,sondern auch richtig vorbereitet zu sterben.
In dem Film The Grey hat sich ein Mann, der mit anderen einen Flugzeugabsturz in der russischen Wildnis überlebt hat, verfolgt von einer Wolfsgruppe, lange durch die verschneite Wildnis geschlagen, - um sich am Ende, als einziger Überlebender, im Lager genau dieser Wolfsgruppe wiederzufinden, - und zu wissen, dass er sterben muss.
"Don't be afraid"
Seine Kameraden sind alle umgekommen und er denkt an seine Frau, die vor Jahren gestorben ist, was er nie verwunden hat (zu Beginn des Filmes, will er sich umbringen, macht es aber nicht und kämpft am Ende seinen Kampf gegen den Tod.). Er legt vor der letzten Auseinandersetzung mit dem schwarzen Wolf, dem Tod, die Brieftaschen mit den Pässen seiner getöteten Kameraden, die er eingesammelt hat, zusammen und betrachtet das Bild seiner Frau.
"Don't be afraid"
Sein Vater hatte einst ein Gedicht geschrieben, woran er sich im Augenblick seines eigenen letzten Kampfes und Todes erinnert, - und das geht so:

“Once more into the fray
Into the last good fight I’ll ever know
Live and die on this day
Live and die on this day”


Das ist eine Szene aus einem Film, die für mich wie Celans Gedicht ist und jedes Mal, wenn ich sie sehe, muss ich sehr weinen.

http://www.youtube.com/watch?v=UvZTPfPMYNA

Aber er kämpft, bis zum Ende kämpft er dann, weil er bemerkt, wie kostbar das Leben ist und wie traurig der Tod, - deshalb muss ich weinen.
Zuletzt geändert von Thaddäus am Di 24. Sep 2013, 00:42, insgesamt 1-mal geändert.

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#7 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Thaddäus » Di 24. Sep 2013, 00:19

You're gonna die, that's what's happening.

Sterben ist schwer ...

Das erzählt dieser Film und das erzählt Celans Gedicht.

http://www.youtube.com/watch?v=xGcPXPk8DFU

"Don't be afraid"

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#8 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Lamarck » Di 24. Sep 2013, 14:03

Hi Thaddäa!

Thaddäus hat geschrieben: Ich liebe den deutschen Dichter Paul Celan (ich liebe auch den Franzosen Albert Camus und seinen Le Mythe de Sisyphe).

Besonders liebe ich das Gedicht Celans, Der Gast von 1952:

Der Gast

Lange vor Abend
kehrt bei dir ein, der den Gruß getauscht mit dem Dunkel.
Lange vor Tag
wacht er auf
und facht, eh er geht, einen Schlaf an,
einen Schlaf, durchklungen von Schritten:
du hörst ihn die Fernen durchmessen
und wirfst deine Seele dorthin.


Als ich dieses Gedicht zum ersten Mal mit 15 Jahren las, wurde ich sofort sehr traurig, war aber gleichtzeitig fasziniert. Seitdem beschäftigt mich dieses Gedicht im Herzen.
Für mich ist dieser Gast der Tod.
Der Argentinier tendiert nicht zur Schwermut. Vielleicht ist es auch nur das Erbe meiner deutschen Mutter.
Aber wenn ich einmal sterbe, dann werde ich an dieses Gedicht denken. Dessen bin ich mir sicher.

Seht auch ihr in diesem Gast den Tod?

Natürlich darfst Du ein Gedicht so interpretieren, wie Du möchtest. Nun ist ja der Existenzialist gerne einmal hilflos seinem eigenen Weltschmerz ausgesetzt, aber doch nicht unbedingt die so lebendige Taddel ... .

Paul Celan hat in seinem Gedichtband, zumal er zeit seines Lebens eh nicht so emotional stabil erscheint (autoritärer und ungerechter Vater, Tod eines Kindes, Suizid), die seelischen Umstände seiner deutschen Einbürgerung verarbeitet. Bei Celan ist der Buchtitel Programm, er berichtet darin autobiographisch über die Schwellen, über die er tritt. "Der Gast" ist Celan selbst, der mit seiner Seele in der Vergangenheit gefangen ist - bei den 'Toten', die ihn heimsuchen und ihm um den dringend benötigten Schlaf bringen ... .




Cheers,

Lamarck
„Nothing in Biology makes sense, except in the light of evolution.” (Theodosius Dobzhansky)

„If you can’t stand algebra, keep out of evolutionary biology.” (John Maynard Smith)

„Computers are to biology what mathematics is to physics.” (Harold Morowitz)

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#9 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Thaddäus » Di 24. Sep 2013, 19:33

Lamarck hat geschrieben: "Der Gast" ist Celan selbst, der mit seiner Seele in der Vergangenheit gefangen ist - bei den 'Toten', die ihn heimsuchen und ihm um den dringend benötigten Schlaf bringen ... .
Das ist eine sehr interessante alternative Interpretation des Gastes in diesem Gedicht. Nur, dass der Gast schlicht und einfach um seinen dringend benötigten Schlaf gebracht wird, dies erscheint mir ein bisschen, - wie soll ich sagen - zu wenig tief.
Nun muss natürlich nicht jedes Jota in einem Gedicht besonders tief gedacht sein.
Ich werde darüber nachdenken, ...

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#10 Re: "Der Gast" von Paul Celan

Beitrag von Lamarck » Mi 25. Sep 2013, 00:00

Hi Thaddäa!

Thaddäus hat geschrieben:
Lamarck hat geschrieben: "Der Gast" ist Celan selbst, der mit seiner Seele in der Vergangenheit gefangen ist - bei den 'Toten', die ihn heimsuchen und ihm um den dringend benötigten Schlaf bringen ... .
Das ist eine sehr interessante alternative Interpretation des Gastes in diesem Gedicht. Nur, dass der Gast schlicht und einfach um seinen dringend benötigten Schlaf gebracht wird, dies erscheint mir ein bisschen, - wie soll ich sagen - zu wenig tief.
Nun muss natürlich nicht jedes Jota in einem Gedicht besonders tief gedacht sein.
Ich werde darüber nachdenken, ...

Paul Celan hat zu der Zeit, als er den betreffenden Gedichtband schrieb, mal gesagt, er befinde sich ständig im Zustand von 'gegangen, aber noch nicht angekommen'. Es ist nur zu verständlich, dass die Flucht aus Rumänien einen sensiblen Menschen nicht loslässt. Kunst ist nicht in erster Linie dazu da, nachzuforschen, 'was der Dichter uns damit sagen wil', sondern es zählt, was seine Interpretation bewirkt. Also grübele nicht so viel, außer, Du möchtest traurige Gedichte schreiben ... .




Cheers,

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