Thaddäus hat geschrieben:Halman hat geschrieben:
Allerdings kenne ich das Buch
Wille und Gehirn von den Hirnforschern Hans Helmut Konrhuber und Lüder Deecke. Daraus möchte ich aus den Seiten 87-88 meiner Meinung nach für diese Diskussion sehr wichtige Gedanken zitieren:
Zitat aus Wille und Gehirn:
In der inneren Führung durch Willen im Bunde mit der schöpferischen Fähigkeit des Frontalhirns liegt die Freiheit zu neuen Lösungen, Freiheit nicht gegen, sondern mit der Natur. Ausstieg aus der Natur ist unmöglich; auch für geistige Tätigkeit, die ja Informationsverarbeitung durch Ordnungsänderung ist, ist Energie nötig. Der Wille steht nicht über dem Gehirn, der Geist sitzt nicht hinter dem Gehirn. Bei einer Verletzung der Retina des Auges z.B. sieht das Sehhirn (der visuelle Cortex) den Defekt als dunkles Skotom. Hingegen wird ein akuter Ausfall der ganzen Sehrinde (durch bilateralen Gefäßinsult der Arteria calcarina) nicht wahrgenommen: Der Patient ist blind, ohne dies zu sehen (Rindenblindheit, auch Seelenblindheit genannt). ... Das Seelische lebt nicht außer dem Gehirn, sondern es ist der Innenaspekt der Informationsverarbeitung im Menschengehirn, das bewusste Sehen ist beim Menschen eine Funktion der Hirnrinde (...). Ähnlich ist es mit dem Gewissen: wenn es durch Läsion des Frontalhirns verschwindet, merkt der Mensch den Verlust zunächst nicht; er kann sich sogar fröhlich einer Witzelsucht hingeben, durch leidvolle Erfahrung und Übung kann er aber einsichtiger werden.
Ich denke, dass diese Ausführung aufgrund ihrer Evidenz auf Basis empirischer Daten stichhaltig ist. Was meint ihr dazu?
Man kann dem Text auf dem ersten Blick leicht zustimmen. Schaut man jedoch genauer hin, kann man ihm vor allem deshalb leicht zustimmen, weil er an den entscheidenden Punkten recht oberflächlich bleibt.
Dies mag damit zusammenhängen, dass es nur ein Zitat ist. Der eigentliche Textteil des Buches, indem die Hirnforscher Kornhuber und Deecke ihre Argumentation entfalten, umfasst die Seiten 7 bis 115. Dem zitierten Abschnitt gingen also rund 80 Buchseiten voraus. Leider ist es hier nicht möglich, den gesamten Buchtext zu präsentieren, dafür müsstes Du das Buch entweder in der einer Bücherrei ausleihen oder käuflich erwerben.
Thaddäus hat geschrieben:Drei Bemerkungen fallen mir zu diesem Text ein:
1.
Die empirischen Befunde ergeben in der Tat, dass geistige Tätigkeiten des Menschen ganz offensichtlich ohne oder mit beschädigtem Gehirn nicht oder nur eingeschränkt bzw. verändert möglich sind. Mentale Zustände und geistige Aktivitäten hören auf, wenn das Gehirn abstirbt und wird es verletzt oder durch Krankheit in seiner Funktionsweise beeinträchtigt, ändern sich Verhaltensweisen, die Intelligenz kann eingeschränkt werden, der Charakter eines Menschen kann sich verändern, Sprache kann verloren gehen und erst durch Übung wieder erworben werden usw.usf. Dies alles deutet darauf hin, dass mentale Zustände, geistige Tätigkeiten, der Charakter und das Verhalten eines Menschen etc. direkt von Funktionen in seinem Gehirn und also vom Gehirn selbst abhängig sind.
Diese Korrelation von Geist und Gehirn weist aufgrund des Befundes meiner Meinung nach auf eine
kausale Korrelation zwischen Geist und Gehirn in dem Sinne hin, dass das Gehirn den Geist durch neurologische Erregunsmuster erzeugt.
Geist verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht als "Stoff" irgendweiner Art, sondern als System hochkomplexer Prozesse.
Um dies zu untermauern, möchte ich einige Zitate aus meinen Buch anführen, indem es um die kausalen Beziehungen zwischen Hirn-Läsionen und Störungen des Geistes geht.
Zitat aus Wille und Gehirn (Seiten 43-44):
Wir kennen die Lokalisation des Willens im Frontalhirn vor allem aus den Folgen von Hirnläsionen beim Menschen, gewisser Vorstufen des Willens aber auch aus Hirnläsionen, Faserverbindungen (Jones & Powell 1970, Nauta 1971, Kawamura 1977, Pandya & Yeterian 1990) und Nervenzelltätigkeit (Fuster & Rolls) im Gehirn von Affen, seit 1965 aber auch aus den elektrischen Hirnpotentialen und Hirnmagnetfeldern beim Menschen (Kornhuber & Deecke, Lang et al.) sowie in letzter Zeite auch aus bildgebenden Verfahren, ...
Die Farbmakierungen sind von mir.
Zitat aus Wille und Gehirn(Seiten 46):
Aber auch diese Erfahrungen nahm man seltsamerweise kaum zur Kenntnis, denn bis vor kurzem wurde die Diskussion in den USA über die Funktion des präfrontalen Cortex oft durch den Begriff "working memory" (...) beherrscht, der von Goldman-Rakic eingeführt wurde, aber nur eine Umbenennung der 1935 von Jacobsen bei Affen entdeckten Störung des Kurzzeitgedächnisses durch Läsionen der fronto-lateralen Konvexität war.
Zitat aus Wille und Gehirn (Seite 54 ):
Weiter gelten als Frontalhirntests der Contingency Naming Test, der Rey Complex Figure Test (Anderson et al. 2002) und der Trail Making Test (Moll et al. 2002) Erhöhte Ablenkbarkeit nach präfrontalen Läsionen wurde auch bei Affen bestätigt (Grüninger & Pribram 1969).
Auf Seite 67f. wird u.a. auf die Auswirkungen im Sozialverhalten bei Läsionen der Amygdala bei Affen eingegegangen:
- Ausschaltung der Amygdala bei erwachsenen Affen führt zu weniger Misstrauen (daher bei Kameraden beliebt)
-
"beidseitige Läsionen der Amygala bei Affen in früher Kindheit (Alter 2 Wochen)" führt zu
"Enttäuschungen durch zu große Sorglosikeit" und somit kausal zu mehr Ängstlistkeit im Sozialverhalten, aber keineswegs autistisch und ansonsten unaufällig. (
Prather et al. 2001).
Thaddäus hat geschrieben:2.
Freiheit ist ein zu komplexer Begriff, als das man ihn durch die Verortung in den Frontallappen bereits hinreichend erklärt hätte.
Freiheit gemäß der Natur wurde bereits von den Epikureern (die lange vor dem Auftreten Jesu Atomisten waren und eine atomistische Physik vertraten) in ein schönes erklärendes Bild gefasst. Sie sprachen davon, man solle sich einen Hund vorstellen, der an einen Wagen angeleint ist. Setzt jemand den Wagen (mit einem Pferd) in Bewegung, muss der Hund ihm folgen. Er kann nun zweierlei tun: sich gegen diesen "natürlichen Zwang" sträuben, dann wird er trotzdem dahin gezogen, wo der Wagen hinfährt. Nur geht es dem Hund dabei schlecht. Oder er folgt dem Wagen "freiwillig" und wird dann zwar immer noch in die Richtung des Wagens gezogen, aber es geht ihm dabei besser, weil er keine Kräfte aufwendet, um sich zu sträuben, und er wird nicht durch den Staub geschleift, was für den Hund nur Leid (Schmerz/Unlust) und Unglück bedeutet. "Freiheit" hat er freilich nur innerhalb der Grenzen seiner Leine. Aber eine gewisse Freiheit hat er.
Insbesondere im ersten Kapitel beginnen die Hirnforscher mit einem kurzen philosophischen Einstieg (Kant, Kierkegaard, Sokrates, Albert Schweitzer und Spinoza). Der Begriff der Freiheit wird thematisiert und die Autoren gehen von Graden der Freiheit aus, nicht von absoluter Freiheit.
Zitat aus Wille und Gehirn (Seite 19):
Wirkliche Freiheit ist Fähigkeit, ist Tugend im antiken Sinne; sie ist immer relativ: ein Nüchterner ist freier als ein Betrunkener, ein Erwachsener freier als ein Kleinkind, ein Mensch freier als ein Affe, aber auch ein Affe freier als ein Wurm (Kornhuber 1984). Ein Mensch ist weit mehr als ein sprechender Affe. Ein Affe hat keine Langzeitplanung, keine Kreativität, keine Verantwortlichkeit (außer für eigene Junge), keine Vernunft und folglich nur Vorstufen von Willen.
Die philosophische Betrachtung ist der Einstieg in die neurologische Analyse und am Schluss erfolgt ein Fazit, das in folgenden Worten der Autoren gut zum Ausdruck kommt:
Der Mensch kann tun, was er will, aber nicht wollen, was er will, behauptet Schopenhauer – unzutreffend, denn der Mensch kann keineswegs alles tun, was er will, und er kann in vieler Hinsicht doch auch lernen zu wollen, was er will.
Meiner Meinung nach ein sehr lesenswertes und differenziertes Buch, alledings auch recht anspruchsvoll.