Joseph Ratzinger: Jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann

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Novas
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#1 Joseph Ratzinger: Jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann

Beitrag von Novas » Di 1. Sep 2015, 13:29

Eine ganz gute Darstellung vom Joseph, wie ich finde. :mrgreen:

Joseph Ratzinger: Die Christenheit, die Entmythologisierung und der Sieg der Wahrheit über die Religionen


Das Christentum beruht nach Augustinus und nach der für ihn maßgebenden biblischen Tradition nicht auf mythischen Bildern und Ahnungen, deren Rechtfertigung schließlich in ihrer politischen Nützlichkeit liegt, sondern es bezieht sich auf jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann. Anders gesagt: Augustinus identifiziert den biblischen Monotheismus mit den philosophischen Einsichten über den Grund der Welt, die sich in verschiedenen Variationen in der antiken Philosophie herausgebildet haben. Dies ist gemeint, wenn das Christentum seit der Areopag-Rede des heiligen Paulus mit dem Anspruch auftritt, die religio vera zu sein. Das will sagen: Der christliche Glaube beruht nicht auf Poesie und Politik, diesen beiden großen Quellen der Religion; er beruht auf Erkenntnis. Er verehrt jenes Sein, das allem Existierenden zugrunde liegt, den „wirklichen Gott“. Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler.

Weil es so ist, weil das Christentum sich als Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit verstand, deswegen mußte es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden: nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt, nicht aus einer Art von religiösem Imperialismus heraus, sondern als Wahrheit, die den Schein überflüssig macht. Und eben deshalb muß es in der weiträumigen Toleranz der Polytheismen als unverträglich, ja als religionsfeindlich, als „Atheismus“ erscheinen: Es hielt sich nicht an die Relativität und Austauschbarkeit der Bilder, es störte damit vor allem den politischen Nutzen der Religionen und gefährdete so die Grundlagen des Staates, in dem es nicht Religion unter Religionen, sondern Sieg der Einsicht über die Welt der Religionen sein wollte.

Andererseits hängt mit dieser Ortsbestimmung des Christlichen im Kosmos von Religion und Philosophie auch die Durchschlagskraft des Christentums zusammen. Schon vor dem Auftreten der christlichen Mission hatten gebildete Kreise der Antike in der Figur der „Gottesfürchtigen“ den Anschluß an den jüdischen Glauben gesucht, der ihnen als religiöse Gestalt des philosophischen Monotheismus erschien und so zugleich den Forderungen der Vernunft wie dem religiösen Bedürfnis des Menschen entsprach, auf das die Philosophie allein nicht antworten konnte: Zu einem bloß gedachten Gott betet man nicht. Wenn aber der Gott, den das Denken findet, nun im Innern einer Religion als sprechender und handelnder Gott begegnet, dann sind Denken und Glauben versöhnt

[...]

Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur philosophia universalis auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich.

Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muß sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute – letztlich wie damals – im Tiefsten darin bestehen müssen, daß Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen zusammenfallen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.
http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/p ... rheit.html


Zum näheren Begriffsverständnis: was ist Orthopraxie? Der Ausdruck Orthopraxie (v. griech. orthos, richtig, und praxis, Tun, Handeln) ist ein im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Rahmen der beginnenden ökumenischen Bewegung gebildetes theologisches Kunstwort für richtiges Handeln und dessen Reflexion.

Der Ausdruck ist als Pendant zu Orthodoxie und nur in diesem Zusammenhang gemeint. Während das Streben nach rechter Lehre, nach theoretisch-theologischer Rechtgläubigkeit die Kirchenspaltungen hervorgerufen habe, bezeichnet es unter anderem das gemeinsame Bemühen um rechtes Handeln angesichts der brennenden Herausforderungen der Zeit um die Zusammenführung der getrennten Christen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Orthopraxie

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#2 Re: Joseph Ratzinger: Jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann

Beitrag von Pluto » Di 1. Sep 2015, 14:12

Novalis hat geschrieben:
Joseph Ratzinger hat geschrieben:Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur philosophia universalis auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich.
Herr Ratzinger versteht offenbar Wissenschaft nicht, wenn er meint, die Evolutiostheorie hätte versagt, weil sie dem Leben keinen Sinn zu geben vermag.
Naturwissenschaft sind nun mal keine sinngebenden Disziplinen. Diese Anspruch haben immer nur die Religionen erhoben.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#3 Re: Joseph Ratzinger: Jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann

Beitrag von Novas » Di 1. Sep 2015, 14:47

Pluto hat geschrieben:Herr Ratzinger versteht offenbar Wissenschaft nicht, wenn er meint, die Evolutiostheorie hätte versagt, weil sie dem Leben keinen Sinn zu geben vermag

Das hat er so nicht gesagt.

Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten[...] Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich.

Mit anderen Worten: Wissenschaft kann Spiritualität nicht ersetzen und es braucht auch ein höheres (spirituelles) Paradigma, welches der Sinngebung dient.

Naturwissenschaft sind nun mal keine sinngebenden Disziplinen. Diese Anspruch haben immer nur die Religionen erhoben.

Eben.

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#4 Re: Joseph Ratzinger: Jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann

Beitrag von Pluto » Di 1. Sep 2015, 15:00

Novalis hat geschrieben:Mit anderen Worten: es braucht ein höheres (spirituelles) Paradigma, welches uns dabei hilft, die globale Krise in neue, sinnvolle Bahnen zu lenken.
Wieso "braucht"...?
Mir scheint, du machst denselben Fehler wie Herr Ratzinger und die Kreationisten, die die Selbststrukturierungsmechanismen der Natur völlig unterschätzt.

Novalis hat geschrieben:
Naturwissenschaft sind nun mal keine sinngebenden Disziplinen. Diese Anspruch haben immer nur die Religionen erhoben.
Eben.
Wer das versteht, kommt aber niemals auf die Idee zu behaupten, die Evolutionstheorie hätte in ihrer Aufgabe versagt.
Ihre Aufgabe ist es, die Natur zu beschreiben, nicht ihr einen Sinn zu geben.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#5 Re: Joseph Ratzinger: Jenes Göttliche, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen kann

Beitrag von Novas » Di 1. Sep 2015, 15:09

Pluto hat geschrieben:Wieso "braucht"...?

Weil Menschen nicht nur materielle Wesen sind, sie sind auch spirituelle (geistige/bewusste) Wesen und stellen deshalb typische Fragen, die damit zu tun haben.


Pluto hat geschrieben:Wer das versteht, kommt aber niemals auf die Idee zu behaupten, die Evolutionstheorie hätte in ihrer Aufgabe versagt.

Das hat er auch nicht gesagt. Eigentlich differenziert er nur.

Ihre Aufgabe ist es, die Natur zu beschreiben, nicht ihr einen Sinn zu geben

Eben deshalb kann sie auch keinen Ethos definieren.

Mir scheint, du machst denselben Fehler wie Herr Ratzinger und die Kreationisten, die die Selbststrukturierungsmechanismen der Natur völlig unterschätzt.

während Du das Spirituelle/Religiöse (bzw. das Geistig/Seelische) etwas arg unterschätzt, was aber scheinbar zur Natur des Menschen gehört. :) Ich denke, dass es heute ein integrales Weltbild braucht, welches Spiritualität und wissenschaftliches Denken wieder miteinander vereint (ohne (!) eines auf das andere zu reduzieren)

Ein Paradigma der Einheit. Ich verweise hier gerne noch mal auf Ken Wilber:
Der wichtigste gegenwärtige Vertreter der integralen Theorie, Ken Wilber, vertritt die Auffassung, dass auch mystische und spirituelle Erfahrungen Wissen über die Natur vermitteln können und deshalb in einem umfassenden Weltmodell ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden müssen. Mittels geeigneter Übungsmethoden wie der Meditation sei es sogar möglich, diese intersubjektiv zu überprüfen. Dies wird auch mit der Gleichförmigkeit dieser spirituellen Erfahrungen quer durch alle Kulturen und Epochen sowie ihrer prinzipiellen Zugänglichkeit durch meditative Praxis begründet.

Nach Ken Wilber bestünde die Aufgabe eines integralen Theoretikers nicht darin, alle existierenden Theorien zu betrachten und zu entscheiden, welche davon „richtig“ sei. Vielmehr müsse er erklären, in welchem Kontext die Gesamtheit dieser Ideen „richtig“ sein könne. Denn all diese Theorien in Wissenschaft, Kunst und Spiritualität würden ja tatsächlich praktiziert und man müsse daher nach der Struktur des Kosmos fragen, der ein Aufkommen so vieler grundverschiedener Disziplinen gestatte. Es sei also die Frage nach der Architektur des Universums selbst zu stellen.

und bezüglich des Ethos, der ergibt sich (im spirituellen Denken) aus der Erfahrung einer höheren Einheit:
Ein weiterer wichtiger Aspekt integraler Theorie besteht darin, zwischen den verschiedenen Ansätzen zur menschlichen Subjektivität zu vermitteln. So wird einerseits davon ausgegangen, dass das individuelle Ich oder Ego nicht die höchste Qualität menschlicher Handlungsfähigkeit darstellt, sondern in einem komplexeren transpersonalen Selbst aufgehen kann, das auch die anderen Wesen im eigenen Denken, Fühlen und Handeln berücksichtigt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Integrale_Theorie

Im Zusammenhang damit - was ich außerordenltich erfreulich und ermutigend finde - ist auch die Enzyklika Laudato Si´von Papst Franziskus - erwähnenswert, denn dort spricht er sich für eine "integrale Ökologie" aus, im Sinne einer neuen "Schöpfungsverantwortung/Schöpfungsbewusstsein", wie auch die Genesis schreibt und macht klar, was damit eigentlich gemeint ist:

Die Schöpfungsverantwortung spielt bei Papst Franziskus Umweltenzyklika Laudato Si´ eine zentrale Rolle. Der Mensch ist eben nicht nur Herr über Tier und Natur, sondern muss für deren Schutz sorgen. Franziskus spricht hier von einer integralen Ökologie. Marianne Heimbach-Steins vom Institut für christliche Sozialwissenschaft an der Universität Münster erklärte Radio Vatikan, was damit gemeint ist.

Wie die Genesis schreibt, wurde die Erde dem Menschen anvertraut, damit er über sie herrsche. Lange Zeit wurde das auch in der christlichen Tradition sehr einseitig ausgelegt, im Sinne einer Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur. Franziskus macht in seinem Lehrschreiben Laudato Si´ deutlich, dass das nicht gemeint sein kann. Sondern dass die Beziehung des Menschen zu den anderen Geschöpfen eine Beziehung der Sorge und der Verantwortung sein muss. Alle Geschöpfe, vom Wurm bis hin zum Menschen, haben ihre Wertigkeit und Würde. Franziskus nennt es die eine Schöpfungsfamilie. Schon der Heilige Franziskus sprach in seinem Sonnengesang von der Schwester Erde und den verschiedenen Geschöpfen als Geschwister. Aus diesem gedanklichen Zusammenhang der Schöpfung als Familie, dass alle Kinder des einen Schöpfervaters sind, entspringt der Gedanke der Verantwortung.

„Also das, was Herrschaftsauftrag meint, ist nicht isoliert als Freibrief zur Ausbeutung zu verstehen und das hat schon damit zu tun, wie Genesis I den Menschen darstellt, als Imago Die, als Bild Gottes, Statue Gottes. Wenn man das nach den heutigen Erkenntnissen der Exegese liest, dann heißt das, dass der Mensch als Stellvertreter Gottes in der Schöpfung installiert ist und in dem Sinn, wie Gott für die Schöpfung gesorgt wissen will für sie sorgen soll. Dann klingt dieses Bild vom Herrschaftsauftrag ganz anders, als wenn man das isoliert als Freibrief zur Ausbeutung liest, wie es eine Zeit lang nicht ohne Zutun auch christlicher Anthropologien, das sagt der Papst ganz deutlich, geschehen und wirksam geworden ist.“

Der Schutz für die Umwelt und die Bewahrung der Schöpfung sind also ein biblischer Auftrag, an den Franziskus mit seiner Umweltenzyklika erinnern möchte. Wichtig ist ihm dabei aber stets ein ganzheitliches Bild, eine integrale Ökologie.
http://de.radiovaticana.va/news/2015/08 ... g_/1168051

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