Was ist Verstehen?

Philosophisches zum Nachdenken
ThomasM
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#1 Was ist Verstehen?

Beitrag von ThomasM » Fr 23. Okt 2015, 16:10

Anlässlich eines Buches, das ich gerade lese, bin ich auf die Frage gestossen, was eigentlich "verstehen" ist.
Mit anderen Worten: Was meine ich eigentlich, wenn ich sage "ich habe das und das verstanden"?

Wenn ich auf solche Fragen stoße, dann schlägt in mir natürlich zuerst mein naturwissenschaftliches Herz.
in der Naturwissenschaft ist Verstehen meistens das Bilden eines allgemeineren Modells mit einer endlichen Zahl von Parametern, mit dem ich das geschehen nachbilden kann.
Beide Bedingungen sind wichtig. Die Allgemeinheit des Modells ist wichtig, weil wir es nicht als verstehen bezeichnen würden, wenn wir eine unklare Situation durch eine andere unklare und einzigartige Situation zu beschreiben versuchen. In der Naturwissenschaft wird immer versucht, ein Modell zu bilden, das mehrere Situationen abdeckt und eine Vielzahl von Phänomenen auf allgemeinere Prinzipien zurückführt.
Auch die Endlichkeit der Parameter ist wichtig. Wenn unsere Erklärung unendlich viele unbekannte, von außen zu bestimmende Parameter hätte, dann würden wir das nicht als Verstehen klassifizieren.

Aber im Alltag gibt es viele Situationen, in der diese Form des Verstehens nicht relevant ist. Es gibt definitiv andere Formen des Verstehens. So z.B.

- Nachempfinden, d.h. ich kann eine Handlungsweise verstehen, weil ich genauso handeln würde.
- Analogieschluss. Ich kann etwas verstehen, weil ich eine analoge Situation kenne und daran mein Verständnis aufbaue.
- Logik. Ich verstehe etwas, weil ich an Hand einer Logik (nicht notwendigerweise mathematische Logik) zu dem Schluss komme, dass die Handlung richtig war.

Vielleicht fallen euch ja noch andere Formen des Verstehens ein.

Meine Frage bleibt aber. Was ist es, was in mir das Gefühl hervorruft "das habe ich verstanden"?
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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Andreas
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#2 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von Andreas » Fr 23. Okt 2015, 16:23

ThomasM hat geschrieben:Meine Frage bleibt aber. Was ist es, was in mir das Gefühl hervorruft "das habe ich verstanden"?
Spannungsabbau würde mir dazu als Hausnummer noch einfallen. Ein Unverständnis, Nichtverstehen oder Missverständnis schafft eine Distanz zum Objekt oder der Situation, die als unangenehme Spannung empfunden wird. Der Mensch tendiert zu Nähe. Gut möglich, dass beim "Verstehen(-wollen)" soziale Veranlagungen ins Kognitive durchschlagen oder das Kognitive (entwicklungsgeschichtlich jüngere) auf dem Sozialen (gab es lange vor dem Menschen) aufbaut oder damit (untrennbar?)vernetzt ist.

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Savonlinna
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#3 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von Savonlinna » Sa 24. Okt 2015, 11:28

Ein sehr produktives Thema, Thomas, das einen dazu bringt, manches zum ersten Mal zu überlegen.

a.
ThomasM hat geschrieben: - Nachempfinden, d.h. ich kann eine Handlungsweise verstehen, weil ich genauso handeln würde.
"Nachempfinden" ist noch erweiterbar:
Gesprächstherapeuten, die nach der klientenzentrierten Methode arbeiten, haben das Ziel, den problembelasteten Klienten in der Form zu verstehen, dass der Klient aufatmen kann und ausdrückt, dass er sich verstanden fühlt.

Da ist das "Verstehen" also durch das positive Feedback des Gesprächspartners bestätigt.
Der Therapeut hört dem Klienten dermaßen genau zu, beobachet vor allem den non-verbalen Ausdruck des Klienten, dass der Therapeut das formulieren kann und der Klient dann allmählich die Basis seines Problems selber erkennt.

Hier liegt also Empathie vor, die darauf verzichtet, den Gesprächspartner korrigierend zu interpretieren, sondern darauf setzt, dass durch Verbalisieren des Non-Verbalen der Klient sein Problem selber versteht.

Der Maßstab, an dem das Verstanden-Haben gemessen wird, ist die Problemlösung. Wenn der Klient sich erleichtert fühlt, ist der Prozess des Verstehens gelungen.

Das gilt auch in Gespräch zwischen Freunden, auch wenn der Zuhörende anders handeln würde als der Erzählende.

b.
Wenn kein Feedback beim Verstehen möglich ist - zum Beispiel, wenn man ein Buch liest -, kann tatsächlich ein Missverständnis des Buches vorliegen, obwohl der Leser das Gefühl hat, das Buch verstanden zu haben.

Das wirft die Frage auf: Woher entsteht das subjektive Gefühl, etwas verstanden zu haben - und wie ist es möglich zu beurteilen, ob der Leser richtig verstanden hat?

Ich nehme mal einen Sachtext. Man meint, ihn verstanden zu haben, wenn die Aussagen einen Sinn für den Leser machen. Und Sinn machen sie für ihn, wenn er die dortigen Aussagen an das anknüpfen kann, was er schon vorher verstanden hat.
Dieses subjektive Gefühl "ich habe den Text verstanden" kann darum also auch auf einem Irrtum beruhen.
Woran aber kann man den Irrtum festmachen?

Im Deutschunterricht in den Gymnasien müssen die Schüler Sachtexte zusammenfassen und damit nachweisen, ob sie den Text "verstanden" haben.
Es gibt da also Kriterien, die Richtigkeit des Verstehens zu beurteilen.

Die beruhen - salopp gesagt - darauf, dass eine Kulturgemeinschaft die Kommunikationsmöglichkeit soweit ausgebildet hat, dass diese im weitestmöglichen Rahmen intersubjektiv ist. Es gibt also Übereinkünfte, Konventionen, wie man was ausdrückt, wenn man dies oder das mitteilen möchte.

Kennt ein Schüler diese Konventionen noch nicht, dann versteht er entweder nicht, oder aber er versteht falsch, weil er die Textaussagen entweder an seiner noch zu geringen Erfahrung misst oder aber die Erfahrung zwar hat, aber die Konventionen nicht kennt, in denen das ausgedrückt wird.

c.
Wenn ein philosophischer oder gar ein literarischer Text vorliegt, dann kann das subjektive Gefühl des Verstehens - das also meist dadurch entstehtt, dass der Leser das Neugelesene an seine Erfahrungen anknüpft - nicht mehr so einfach korrigiert werden.
Denn beide Textsorten setzen nicht unbedingt auf Eindeutigkeit.
Es gibt also mehrere Lesarten, die einander nicht unbedingt ausschließen müssen.
Dennoch kann es wirklich auch Lesarten geben, die trotz Vielschichtigkeit als "falsch" deklariert werden können.

Das ist dann möglich, wenn das, was die Kulturgemeinschaft als Konvention der Kommunikation ausgebildet hat, auch in diesem Fall beim Deuten massiv verletzt ist.
Wenn also deutlich etwas hineininterpretiert wird, was die Sätze des Textes nicht hergeben.

d.
Es ergibt sich noch die Frage, ob der Verstehende - der einen Text nach gültiger Konvention falsch verstanden hat - nicht das Recht hat, misszuverstehen, wenn er dadurch Erkenntnisse bekommen hat.

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NIS
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#4 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von NIS » Sa 24. Okt 2015, 11:52

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#5 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von Salome23 » Sa 24. Okt 2015, 12:50

ThomasM hat geschrieben:Anlässlich eines Buches, das ich gerade lese, bin ich auf die Frage gestossen, was eigentlich "verstehen" ist.
Mit anderen Worten: Was meine ich eigentlich, wenn ich sage "ich habe das und das verstanden"?
Dass du etwas begriffen hast /richtig vernommen hast/ einordnen kannst?

ThomasM
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#6 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von ThomasM » So 25. Okt 2015, 16:06

Hallo Savonlinna
Savonlinna hat geschrieben: "Nachempfinden" ist noch erweiterbar:
Gesprächstherapeuten, die nach der klientenzentrierten Methode arbeiten, haben das Ziel, den problembelasteten Klienten in der Form zu verstehen, dass der Klient aufatmen kann und ausdrückt, dass er sich verstanden fühlt.
Hier muss man vielleicht unterscheiden zwischen
- Der Therapeut versteht seinen Patienten bzw. sein Problem.
- Der Patient fühlt sich verstanden, egal, ob das tatsächlich der Fall ist oder nicht.
- Der Patient versteht sich selber bzw. sein Problem.

so wie ich Therapie verstanden habe, geht es im Allgemeinen darum, dass der Patient eine Selbsterkenntnis hat. Wer sein Problem versteht, geht damit viel sachlicher und bewusster um, als wenn er nicht weiß, was mit ihm los ist.

Savonlinna hat geschrieben: Es gibt da also Kriterien, die Richtigkeit des Verstehens zu beurteilen.
Eigentlich wäre das abzuändern dahingehend, dass das Verständnis des Lehrers und das Verständnis des Schülers dasselbe sind. Man kann also durch Kommunikation sein Verständnis abgleichen, indem man methodische Schlussfolgerungen vergleicht.

Bei Texten ist die nicht-Eindeutigkeit dessen, was man "Verstehen eines Textes" nennt, schon ein Problem.
Es fragt sich, wieviele Möglichkeiten es denn gibt, ein Text zu verstehen. Wenn man einen Text, wie die Bibel, anschaut, dann muss man wohl zu dem Schluss kommen, dass es soviele sind, wie Situationen, in denen er verstanden werden soll.
Das deckt sich mit den Aussagen der Kommunikationstheorie, dass an dem verstehen eben nicht nur der Sender, sondern auch der Empfänger beteiligt ist. Noch extremer ist die Aussage, dass allein der Empfänger bestimmt, was das Verständnis ist, also das, was der Sender sagen wollte, eigentlich vollkommen irrelevant ist.

Ich bin auf die Frage übrigens gekommen, weil ich über eine Frage gelesen habe, die seit Jahrtausenden unverstanden ist. Alle Versuche, ein Verständnis herbeizuführen, haben sich als unzureichend herausgestellt. Es ist daher zu fragen, wie es kommt, dass es Fragen gibt, die offensichtlich nicht verstanden werden können.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

ThomasM
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#7 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von ThomasM » So 25. Okt 2015, 16:09

Salome23 hat geschrieben:
ThomasM hat geschrieben:Anlässlich eines Buches, das ich gerade lese, bin ich auf die Frage gestossen, was eigentlich "verstehen" ist.
Mit anderen Worten: Was meine ich eigentlich, wenn ich sage "ich habe das und das verstanden"?
Dass du etwas begriffen hast /richtig vernommen hast/ einordnen kannst?
Begreifen ist meines Erachtens ein Synonym für Verstehen.
Richtig vernommen ist etwas, was ich nicht meine, mir geht es also nicht um das physikalisch korrekte Aufnehmen.
Einordnen ist bereits eine bestimmte Form des Verstehens. Denn das besagt ja, dass ich ein Schema habe, in dem ich das, was ich sehe, einordne. Das Schema gibt mir den Rahmen des Verstehens. Ich glaube aber, dass das nicht die einzige Form des Verstehens ist.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

Lena
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#8 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von Lena » So 25. Okt 2015, 17:35

ThomasM hat geschrieben: Was meine ich eigentlich, wenn ich sage "ich habe das und das verstanden"?

Zwischen Dir und mir ist Einverständnis.
Kannst du mir helfen, dich richtig zu verstehen?
Erbreich 

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#9 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von Novas » So 25. Okt 2015, 17:59

ThomasM hat geschrieben:Was ist es, was in mir das Gefühl hervorruft "das habe ich verstanden"?

Das Licht des Bewusstseins. ;) Momente in denen wir „Verständnis“, „Liebe“ oder „Schönheit“ erleben, sind Zeiträume in denen wir diese Gegenwart von Bewusstsein erleben.
Zuletzt geändert von Novas am So 25. Okt 2015, 18:15, insgesamt 1-mal geändert.

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Savonlinna
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#10 Re: Was ist Verstehen?

Beitrag von Savonlinna » So 25. Okt 2015, 18:15

ThomasM hat geschrieben:Hallo Savonlinna
Savonlinna hat geschrieben: "Nachempfinden" ist noch erweiterbar:
Gesprächstherapeuten, die nach der klientenzentrierten Methode arbeiten, haben das Ziel, den problembelasteten Klienten in der Form zu verstehen, dass der Klient aufatmen kann und ausdrückt, dass er sich verstanden fühlt.

Hier muss man vielleicht unterscheiden zwischen
- Der Therapeut versteht seinen Patienten bzw. sein Problem.
- Der Patient fühlt sich verstanden, egal, ob das tatsächlich der Fall ist oder nicht.
- Der Patient versteht sich selber bzw. sein Problem.
Ich habe nur von der klientenzentrierten Gesprächstherapie gesprochen - hab das oben noch mal markiert.

Dein Satz "Der Patient fühlt sich verstanden, egal, ob das tatsächlich der Fall ist oder nicht" bereitet mir Schwierigkeiten.
Denn wer ist der, der entscheidet, ob jemand "richtig" einen Menschen verstanden hat?

Angenommen, ein junges Mädchen will Selbstmord machen, kommt in die Gesprächstherapie, die klientenzentriert arbeitet.
Der Gesprächstherapeut macht sich mit dem Mädchen zusammen auf den Weg, die Ursache für diese Absicht zu finden.

Wahrscheinlich ist es ein verworrenenes Ursachenpaket, das das Mädchen selber nicht durchschaut; es hat nur das Gefühl: "ich pack das Leben nicht".
Wahrscheinlich hat es jede Menge Ratschläge gehört: 'Reiß dich zusammen', 'Wenn du das willst, dann tu es', 'Selbstmord ist feige'. und viele haben ihr Problemlösungen angeboten.
Nichts davon hat gezündet, eher im Gegenteil: sie fühlt sich von der Umwelt unverstanden und will "raus aus dem Laden".

Und dann ist da endlich jemand, der wirklich zuhört. Dem Mädchen nicht widerspricht, sondern ihm dazu verhilft, seine eigene Verworrenheit vorsichtig zu entwirren.
Der Gesprächstherapeut ist da eher "Hebamme", will die Selbsterkenntnis helfend begleiten.

Und wenn dann plötzlich das große AHA-Erlebnis kommt, das Mädchen plötzlich emotional erfasst, was tatsächlich das Problem für sie ist - meist ganz woanders, als sie gemeint hat -, dann kann die große Erleichterung sofort folgen und sie kann gegebenenfalls erkennan, dass bei dem nun von ihr Verstandenen nicht der Selbstmord die Lösung ist, sondern etwas anderes, das man konkret angehen kann.

ThomasM hat geschrieben:so wie ich Therapie verstanden habe, geht es im Allgemeinen darum, dass der Patient eine Selbsterkenntnis hat. Wer sein Problem versteht, geht damit viel sachlicher und bewusster um, als wenn er nicht weiß, was mit ihm los ist.
Rationale Erkenntnis hilft auch mit anderen Therapeuten als den klientenzentrierten nicht.
Verstehen muss seelisch erfasst werden, und es kann nur aus dem psychisch Leidenden selber stammen.
Wenn das nicht gelingt, kann kein Therapeut der Welt helfen.

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