Die Einfachheit des Evangeliums

Nichtchristen sind willkommen, wir bitten aber darum, in diesem Forum keine Bibel- und Glaubenskritik zu üben.
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Novas
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#1 Die Einfachheit des Evangeliums

Beitrag von Novas » Di 20. Okt 2015, 17:09

Etwas ganz Einfaches

Beim Aufschlagen des Evangeliums könnte man sich vorstellen: Die Worte Jesu stammen wie aus einem uralten Brief, der mir in einer unbekannten Sprache geschrieben wurde. Da ihn jemand an mich richtet, der mich liebt, versuche ich den Sinn zu verstehen; und ich werde das Wenige, das ich begreife, in die Tat umsetzen.

Zunächst kommt es nicht auf umfangreiches Wissen an. Dieses hat zwar seinen Wert, aber der Mensch beginnt das Geheimnis des Glaubens zuerst mit dem Herzen zu erfassen, tief im Innern. Das Wissen kommt später. Man bekommt nicht alles auf einmal. Inneres Leben wächst allmählich. Heute – mehr als gestern – ergründen wir den Glauben Stück für Stück.

Tief im Menschen liegt die Erwartung einer Gegenwart, das stille Verlangen nach einer Gemeinschaft. Vergessen wir nie: das schlichte Verlangen nach Gott ist schon der Anfang des Glaubens.

Niemand kann für sich allein das gesamte Evangelium begreifen. Jeder Mensch kann sich sagen: In der einzigartigen Gemeinschaft, welche die Kirche ist, verstehen und leben andere, was ich vom Glauben nicht begreife. Ich stütze mich nicht nur auf meinen eigenen Glauben, sondern auf den Glauben der Christen aller Zeiten, seit Maria und den Aposteln bis heute. Und Tag für Tag mache ich mich bereit, dem Geheimnis des Glaubens Vertrauen zu schenken.

Es zeigt sich, daß der Glaube, das Vertrauen auf Gott, etwas ganz Einfaches ist, so einfach, daß alle ihn annehmen können. Er ist wie ein Schritt, den wir tausendfach von neuem tun, ein Leben lang, bis zum letzten Atemzug.


Frère Roger, Taizé

http://www.taize.fr/de_article1127.html

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(c) brian donovan
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Novas
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#2 Re: Die Einfachheit des Evangeliums

Beitrag von Novas » Di 20. Okt 2015, 18:36

Das Kreuz: Warum wurde ein Folterwerkzeug zum Symbol des Christentums?

Der Tod ist das größte Rätsel des Menschseins. Was wir in langen Jahren aufgebaut haben, was die Schönheit eines Menschenlebens ausmacht, scheint in einem einzigen Augenblick wie in Rauch aufzugehen. Und im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Symbol eines gewaltsamen Todes.

Eigentlich steht von Anfang an der Tod nicht genau in der Mitte des Evangeliums. Der Glaube beginnt mit der Verkündigung eines Lebens, das stärker als der Tod: „Er ist auferstanden!“ Im Licht der Auferstehung erhält der Tod in der christlichen Verkündigung seinen eigentlichen Platz.

Betrachtet man ihn in diesem Licht, steht der Tod für etwas anderes. Ohne das Vertrauen in ein Leben jenseits des Todes bleiben die Menschen von Angst gelähmt, verharren sie erstarrt am Rande eines Abgrunds, dem sie sich nicht zu stellen wagen. Christus willigt ein, sein Leben aus Liebe zu geben, weil ihn die Gewißheit unerschütterlicher Gemeinschaft mit dem Vater erfüllt. Damit zieht er den Tod den „Stachel“ (1 Korinther 15,55), nimmt er die Angst vor dem Nichts: „Durch seinen Tod hat er alle befreit, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren“ (Hebräer 2,14-15).

Mit Christus als Weggefährten kann Sterben deshalb bedeuten, sich vollkommen hinzugeben. Durch sein Leben lehrt Jesus uns „das Gesetz des Weizenkorns“: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viele Frucht“ (Johannes 12,24). Dieses „Gesetz“ läßt sich nicht nur auf unseren irdischen Tod beziehen. Es zeigt viel mehr, daß der Weg zum Leben unvermeidlich einschließt, sich loszulassen, bereit zu sein, nicht länger an den eigenen Errungenschaften zu hängen, um mit Gott zum Unerhofften aufzubrechen, das uns vorausliegt. In uns liegt der Keim eines Lebens, das trotz allem bestehen bleibt und blüht.

In diesem Sinn ist der erste „Tod“, den wir erleben, unsere Geburt, wo wir den Mutterschoß verlassen und uns den harten Bedingungen des Lebens stellen. In der Heilsgeschichte gibt es das Beispiel Abrahams, der aufgerufen wird, die ihm vertraute Welt hinter sich zu lassen und sich auf ein Abenteuer mit dem Herrn einzulassen (vgl. Genesis 12, 1-4). Später stoßen wir auf das Beispiel des Volkes Israel, das durch die Bedrängnis der Wüste hindurchgehen muß, um ins Gelobte Land zu gelangen. Das Kreuz ist von daher die volle Offenbarung der wahren Bewegung mit dem Leben: „Wer sein Leben zu bewahren sucht; wird es verlieren. Wer es dagegen verliert, wird es gewinnen“ (Lukas 17,33).

Auf paradoxe Weise ist heute der wirkliche Tod, im unguten Sinn des Begriffs, die Weigerung, sich selbst zusammen mit Gott aufs Spiel zusetzen. Wer sein Leben um jeden Preis „bewahren“, „retten“ will, wer an errungenem Besitz hängt, läuft Gefahr, nichts vom wahren Leben zu begreifen. Das Kreuz Christi offenbart uns eine Weise zu sterben, die der Logik des Lebens nicht widerspricht. Von daher verstehen wir, daß Kreuz und Auferstehung zwei Seiten, eine dunkle und eine helle Seite, ein und derselben Liebe, ein und desselben Lebens sind.
Kann das Leiden eines Unschuldigen uns retten?

Diese Frage wird in einem kürzlich gedrehten Film zugespitzt. Wir wissen, daß Jesus einen schrecklichen Tod erlitten hat. Die Kreuzigung war eine der schlimmsten Foltern der Alten Welt und für die Juden ein Zeichen dafür, von Gott verworfen zu sein (Deuteronomium 23,23; Galater 3,13). Das Neue Testament gibt uns zu verstehen, daß das Kreuz kein Fehlschlag und keine Verurteilung war, sondern ein Werkzeug zu unserem Heil ( z. B. Galater 6,14; Kolosser 1,20). Es ist nicht erstaunlich, daß es von jeher nur schwer zu begreifen war, wie etwas so Schreckliches so glückliche Folgen zeitigen konnte.

Dieses Unverständnis beruht letztlich auf einer Zweideutigkeit, die zu klären sich lohnt. Seit Jahrhunderten hat diese Zweideutigkeit Verheerungen angerichtet und unzählige Menschen vom Glauben an Christus entfernt. Sie besteht in der Vorstellung, daß das Leiden Jesu als solches rettenden Wert besitzt. Anders gesagt, Gott der Vater wäre darauf angewiesen, stünde also in einem gewissen Einvernehmen mit der Gewalt, die auf seinen einzigen Sohn ausgeübt wird.

Es genügt fast, diese These auszuformulieren, um sich darüber klarzuwerden, daß sie nicht nur falsch, sondern gotteslästerlich ist. Wenn Gott nicht einmal möchte, daß böse Menschen leiden und sterben (Ezechiel 33,11), wie sollte er dann beim Leiden seines geliebten Sohnes, des Ersten aller Unschuldigen, Genugtuung empfinden? Das Leiden als solches hat in den Augen Gottes keinerlei Wert. Mehr noch, der Schmerz, der das Lebendige abtötet, steht in vollkommenem Widerspruch zu einem guten Gott, der will, das alle Menschen in Fülle leben (Johannes 10,10).

Woher kommt also diese Zweideutigkeit? Unter anderem von einer zu oberflächlichen Lesart biblischer Texte, die ihrerseits Zusammenfassungen sind. Bei dieser Lesart tritt nicht zutage, worum es im Letzten geht. Im Letzten geht es nämlich um die Liebe. Denn nur die Liebe kann Leben schenken, kann retten. Das Leiden hat zwar keinen Wert in sich, ist meistens nichts als zerstörerisch, aber es gibt Augenblicke, in denen man unbegreifliches Leid auf sich nimmt, um der Liebe treu zu bleiben. Die Texte im Neuen Testament, die das Leiden zu verherrlichen scheinen, feiern in Wirklichkeit die Liebe Gottes, der um des geliebten Menschen willen in der vollkommenen Hingabe bis zum Äußersten geht. Daran erinnert uns Johannes ausdrücklich: „Es gibt keine größere Liebe, als sein Leben für die Freunde zu geben“ (Johannes 15,13).

Im Satz „Christus hat für uns gelitten“ (1 Petrus 2,21) beispielsweise ist es das „Für uns“, worum es im letzten geht, die Gegenwart der Liebe. In seinem Sohn hat Gott das Menschsein angenommen und dabei aus Liebe den letzten Platz erwählt. So ist das Kreuz Ausdruck einer vollkommenen Solidarität (vgl. Philipper 2,6-8). Und wenn Paulus schreibt, daß er die Leiden Christi teilt ( z. B. 2 Korinther 1,5; Philipper 3,10; Kolosser 1,24), bringt er damit seine Sehnsucht zum Ausdruck, sich in der Nachfolge Jesu ohne Einschränkungen für die anderen zu verausgaben. Weil Christus die Leiden unseres Menschseins aus Liebe auf sich genommen hat, können diese Leiden nicht mehr als verdiente Strafe oder blindes und absurdes Schicksal erfahren werden, sondern als eine Begegnung mit der Liebe und als ein Weg zum Leben.


Brief aus Taizé 2004/3

http://www.taize.fr/de_article297.html


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Novas
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#3 Re: Die Einfachheit des Evangeliums

Beitrag von Novas » Mi 21. Okt 2015, 15:23

Was macht den christlichen Glauben aus?

Zunächst ist der Begriff Religion nicht sehr hilfreich, um den christlichen Glauben in seiner Einzigartigkeit zu beschreiben, auch wenn er einen „religiösen“ Aspekt hat, weil es sich um die Beziehung mit dem Absoluten handelt, das wir allgemein Gott nennen. Handelt es sich also um eine Form von Spiritualität? Ja, in dem Sinne, dass sie einen persönlichen Weg darstellt, der durch das Eintauchen in den Sinn der Existenz gekennzeichnet ist. Jedoch ist dieser Weg nicht allein dem individuellen Willen überlassen, er ist keine Ansammlung von Elementen, die ein jeder nach seinem persönlichen Interesse zusammenstellt. Weit entfernt davon, ein Umherirren zwischen den Überresten der spirituellen Traditionen der Menschheit zu sein, handelt es sich um eine Pilgerreise auf den Spuren Christi, die den Pilger kontinuierlich mit denen in Beziehung setzt, die sich auf demselben Weg befinden.

Ist der christliche Glaube also ein gemeinschaftliches Leben? Diese Definition bietet den großen Vorteil, mit dem Leben der Urchristen übereinzustimmen, wie es im Neuen Testament beschrieben ist. Es muss hinzugefügt werden, dass sich so ein gemeinschaftliches Leben nicht nur in bloßem Zusammenleben erschöpft, sondern dass seine Wurzeln bei Gott liegen; es bedeutet im wesentlichen Teilhabe am Leben Gottes, ein Leben, das Liebe und damit Leben für die anderen ist. Auch wenn es in der Realität nicht vollkommen ist, ist es von Anfang an per se inklusiv, universell, bezieht praktisch jeden Menschen mit ein. In diesem Sinne sind die Grenzen der christlichen Gemeinschaft nicht ein für alle mal festgeschrieben, sondern sie fallen letztlich mit der gesamten Menschheitsfamilie, der gesamten Schöpfung zusammen.

Als Quintessenz lässt sich der Glaube an Jesus Christus also als Angebot sich vollziehender Verwirklichung einer umfassenden Gemeinschaft in Gott beschreiben. Sehen wir uns diese Definition genauer an: Zuerst einmal ist der christliche Glaube nicht von Menschen geschaffen sondern ein Angebot beziehungsweise eine Einladung, die von Gott kommt. Die biblische Offenbarung in seiner Gesamtheit ist durch diese Umkehrung der Perspektiven gekennzeichnet. Das war schon damals bei Israel der Fall: Die Identität dieses Volkes gründete sich nicht auf geographische Kriterien oder auf Abstammung, sondern auf die freie Erwählung eines geheimnisvollen und transzendenten Gottes. Dieses verstärkt sich noch mit dem Kommen Jesu Christi. Für seine Jünger – und hier haben wir eine Situation, die bei fast allen Religionsstiftern bzw. Gründern von Schulen der Spiritualität anders ist – war Jesus kein Mann, der unerwartet von göttlicher Macht erwählt wurde oder der mit Müh und Not eine Erleuchtung erreicht hatte, er ist in erster Linie weder Prophet noch Meister der Weisheit, noch Philosoph oder Seher. Bei ihm, so undenkbar das auch erscheinen mag, ist die Quelle des Lebens, die uns entgegen kommt.
Wenn der christliche Glaube ein Angebot des Absoluten ist, liegt die Rolle der Menschen vor allem darin, die Einladung anzunehmen und darauf zu antworten. Es fällt nicht den Menschen zu, die Umrisse dieser Einladung zu bestimmen. Und wenn Gott durch Christus dazu aufruft, ein gemeinschaftliches Leben zu führen, bezieht sich sein Ruf auf die persönlichste Dimension des Menschen, er versucht, in ihm eine Freiheit zu wecken. Alles Gründe, weshalb ein solches Angebot das genaue Gegenteil eines Zwanges ist. Jeglicher Versuch, es durch offene oder versteckte Mittel zu erzwingen, geht wider seine Natur.

Zweitens ist die christliche Botschaft ein Angebot sich vollziehender Verwirklichung, das heißt, eine reale und nicht theoretische Einladung. Es geht vorrangig nicht um Ideen, um das richtige Verständnis intellektueller Wahrheiten. Theologisch ausgedrückt ist der Glaube keine Gnosis. Wie Jesus das Wesentliche seiner Botschaft durch sein Leben bis hin zu seinem Tod an einem Kreuz deutlich gemacht hat, macht der Jünger sein Leben ebenfalls zur Botschaft. Wie es Paulus ausdrückt, hat Christus sein Leben für alle gegeben, „damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde“ (2. Korinther 5, 15). Diese Existenz „für Christus“ kommt in der Existenz „für die anderen“ zum Ausdruck. So gelangen wir auf einem anderen Weg zum Vorrang des gemeinschaftlichen Lebens. Das Christentum ist vielleicht in der Hinsicht einzigartig, dass es keinen Widerspruch zwischen Lehre und Praxis zulässt, ohne dabei seinen Wesensgehalt zu verlieren. Im Gegenteil, die Lehre ist mit der Praxis identisch, denn es geht in beiden Fällen um Gemeinschaft mit Gott und mit den Menschen. Wenn die Christen keine brüderliche Liebe üben, wenn die Kirchen in Gleichgültigkeit oder gegenseitiger Konkurrenz verharren, ist all ihre Predigt nur toter Buchstabe.


Frère John/ Hefte aus Taizé 3


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Howard Ignatius: The Birds Are Coming!


Dieses Foto wurde in Chapala am See Chapala beim Sonnenaufgang gemacht. Tausende von gelb-köpfigen schwarzen Vögeln fliegen im Licht. Neben dran die Statue "Jesus der Fischer" gelegen auf einer Insel in der Mitte des Hafens von Chapala.

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