Opa Klaus hat geschrieben:
Schriftliche und mündliche Überlieferung bestanden zu der Zeit sicherlich gleichwertig nebeneinander.
Einen Moment bitte, lieber Opa Klaus - was du hier als "sicherlich" einfügst ist nicht wirklich belegbar.
1. Wann ist den "zu der Zeit" - 1300 v.u.Z.? 1200?
2. Die Ägypter zumindest waren der Meinung, dass die schriftliche Überlieferung vorzuziehen ist:
Dem niedergeschriebenen Wort als Medu-Netjer ("Gottesworte") wurde magische Wirkkraft zugeschrieben. Nicht umsonst gab es den Titel des "Vorlesepriesters" (Cheri-Habet, wörtl. "der die Schriftrolle trägt"), nicht des "Rezitationspriesters" - er konnte die heiligen Texte vielleicht auch auswendig, aber das Vorlesen aus der Abschrift war die Regel. Exemplarisch sei dazu auch die berühmte Passage aus Papyrus Chester Beatty IV (II,5-III,7) genannt:
"Der Mensch vergeht, sein Leib zerfällt zu Staub, seine Angehörigen sind verschwunden. Doch ein Buch gibt die Erinnerung an ihn in den Mund des Vorlesers"
Was die Israeliten von schriftlicher versus mündlicher Überlieferung hielten, wissen wir nicht. Leider sind uns archäologisch keine Funde erhalten, die überhaupt schon die Existenz einer eigenen Schrift vor 1000 v.u.Z. belegen würden.
Widersprüche und Ungereimtheiten waren damals für hochwertige Überlieferungen sicherlich sehr verpönt, verhasst.
Widerum: ich kann dir ein wenig darüber berichten, was die Ägypter von Chronologie und Überlieferung hielten. Das sagt uns aber nur, was Moses von seiner ägyptischen Erziehung mitgenommen haben könnte, nichts über die Einflüsse seiner biologischen Familie oder seiner Zeit bei den Midianitern.
Die Ägypter führten Königslisten, die die Abfolge der Pharaonen und deren Regierungsjahre auflisteten (ein berühmtes Beispiel findet sich im Tempel des Sethos in Abydos, passt auch in die genannte Epoche). Diese Listen wurden über 3 Jahrtausende hinweg recht präzise überliefert (die von Manetho aus der hellenistischen Zeit bildete die Grundlage für die heute archäologisch bestätigte Chronologie des Alten Ägypten)
Allerdings wurden die Listen damals schon gezielt verändert, um die Erinnerung an ungeliebte oder schlicht zu unkonventionelle Machthaber zu vernichten (im Neuen Reich wurden z.B. Hatschepsut und Echnaton auf diese Weise "gestrichen").
Also ja: man legte Wert auf genaue Listen. Aber nein: frei von politisch motivierter Manipulation waren die Dinger nicht, und auch nicht frei von Irrtümern.
Weiterhin waren die Königslisten der Ägypter ein Werkzeug der Chronologie, aber keine Geschichtsschreibung. Politische Ereignisse und historische Entwicklungen wurden hier nicht aufgezeichnet. Diese existierten nur in Form von einzelnen Episoden und Anekdoten, die mit der Zeit zu Märchen werden konnten (siehe z.B.die Geschichte des Prinzen HorDjedef
https://de.wikipedia.org/wiki/Hordjedef )
Dass die Ägypter
an einer historisch präzisen, lückenlosen und fortlaufenden Geschichtsschreibung nicht wirklich interessiert waren ist aber auch eigentlich klar, denn sie sahen die Welt hier mehr zyklisch als linear: Es galt als Ideal für jede Generation, dem Vorbild der Vorfahren nachzueifern und Welt in ihrer ewigen Gestalt zu erhalten.
Einen Hass auf Ungereimtheiten in irgendwelchen historischen Anekdoten hat Moses von seinen ägyptischen Erziehern bestimmt nicht mitbekommen.
Zum Thema Fälschungen von Überlieferungen kam mir erst gestern der Gedanke,
dass mit der Anzahl von Abschriften/Kopien jegliche Fälschungs-Chance rapid abnimmt,
denn Fälscher müssten dann alle Abschriften (+Übersetzungen) ausfindig machen und ebenfalls fälschen.
Und noch mal: das halte ich für eine etwas naive Annahme.
1. Intention
Die meisten Schreiber oder Erzähler, die einen Text bei der Abschrift/Widergabe verändern, würden sich selbst wohl nicht als "Fälscher" bezeichnen. Meist wollen sie den Urtext nur Übersetzen, kommentieren, um wichtige Zusatzpunkte erweitern oder ihrer Meinung nach Unwichtiges streichen. Sie hätten also keine Motivation, andere Versionen des Textes zu finden und ebenso zu verändern, sie würden nur eine weitere Version in Umlauf bringen
2. Kontrolle
Um solche Fälschungen (oder genauer: Veränderungen) ausfindig zu machen benötigt man nicht nur einen streng kanonisierten und allgemein bekannten Urtext, sondern auch ein Kontrollgremium. Wer bestimmt denn sonst, WELCHE Version die Fälschung ist?
Stellst du dir das so vor, lieber Opa Klaus, dass sich die Ältesten der Stämme Israels seit der Zeit Adams regelmäßig zum Konzil trafen? Jeder legte dann seine Geschichten und Texte vor, oder trug sie vor, und man verglich die Versionen um Abweichungen wieder auszumerzen? Und selbst wenn, glaubst du ernsthaft, die hätten sich jedes Mal einmütig geeinigt? Wäre es angesichts der menschlichen Natur nicht viel wahrscheinlicher, dass jeder seine eigene Version als die "einzig wahre" verteidigt hätte?
Von einigen wird behauptet, das AT wäre in der Babylonischen Gefangenschaft Israels entstanden.
Entstanden ist sicherlich eine Zusammenstellung von alten Texten, die bereits überliefert waren
und niemals restlos alle Erst-Abfassung.
selbst nach dieser Gefangenschaft entstanden noch Propheten-Schriften/Texte.
Kein Widerspruch von meiner Seite. Ich will nur sagen, dass die "alten Texte" meiner Meinung nach keine seit Jahrhunderten reine und unveränderten Textbausteine waren, sondern das ERGEBNIS und die JÜNGSTE VERSION der tradierten Geschichten.
Liebe Grüßen und ein schönes Osterfest
Mirjam