Was genau ist denn Geist?

Rund um Bibel und Glaube
Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#421 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von Savonlinna » Do 27. Nov 2014, 10:15

@ closs

Ich unterscheide Weltanschauung und wissenschaftliche Herleitung.
Die Verwechslung von beiden machen, wie ich beobachte, oft beide Seiten.
Ob man nun herleiten will, dass das, was die Naturwissenschaft per definitionem auf einem selbstdefinierten und eng begrenztem Feld erforscht, im Ergebnis die alleinige Wahrheit hat -
oder ob man herleiten will, dass die persönlichen Begriffsverständnisse wissenschaftlicher Natur seien:

beides ist Übergriff.
Deine "grundsätzlichen Unterscheidungen" sind Übergriff, weil es keine Grundsätze gibt, auf die man sich da berufen kann.

Das ist die Crux, in meinen Augen. Aber ich scheuere mich da jetzt nicht mehr wund.
Als Versuch, die eigenen Gedanken zu klassifizieren, lasse ich es selbstverständlich gelten.
Wenn man etwas als göttliches Vorgehen empfindet, lasse ich es auch auf jeden Fall gelten, weil es jedermanns Recht ist, Dinge so oder anders zu bezeichnen.
Wenn jemand daraus ein Substantiv ableitet: einen Eigennamen "Gott" statt "göttliches Vorgehen" - dann komme ich zwar nicht mehr mit, aber es geht mich nichts an und ich lasse es gelten.

Wenn jemand aber behauptet, das alles lasse sich mit wissenschaftlichen Kategorien intersubjektiv und verbindlich herleiten - und man Anleihen bei der wissenschaftlichen Methodik macht und sie dadurch missbraucht -
dann lasse ich das nicht mehr gelten.

Zum einen nicht, weil die "Gegenseite" oft genau den gleichen Fehler macht und dieser Grundfehler jegliche sinnvolle Kommunikation zwischen beiden Parteien ruiniert,
und zum anderen nicht, weil ich die Wissenschaft vor Missbrauch schützen möchte. Sie ist so oft missbraucht worden für unredliche Ziele, dass ich da fast instinktiv nach meinem Instrument "Ideologiekritik" greife, wenn mir so etwas begegnet.
Das könnte Dir, closs, meine "Erregung" erklären, mit der ich Deinen Texten begegnet bin.

Ich bin in zwei geistigen Diktaturen gleichzeitig aufgewachsen - im radikalen Christentum und im radikalen DDR-Kommunismus. Ich habe ihre Methoden am eigenen Leib erfahren.
Ich habe dann später, im Studium, beide Richtungen untersucht und festgestellt, dass beide erst dann in geistige Diktatur umschlagen, wenn sie anfangen, unlauter zu argumentieren.

Mit "unlauter" meine ich unter anderem: wenn der Marxismus-Leninismus sich Anleihen beim "radikalen Glauben" holt und den Glauben an die Prämissen des Marxismus-Leninismus als "wissenschaftlich-bewiesen" behauptet -
und wenn das Christentum sich Anleihen bei dem radikal-naturwissenschaftlichen Glauben holt und mit gleichen Mitteln die allgemeingültige oder intersubjektiv-verbindliche Wahrheit behauptet.

Ich meine aber inzwischen verstanden zu haben, worum es Dir mit den beiden Kategorien letztendlich geht, closs. (Wie spricht man Deinen Nick eigentlich aus: closs wie Schloss oder closs wie Schoß?)

Ich bin nämlich auf anderem Gebiet einem ganz ähnlichen Problem begegnet:
man liest - seit rund zwanzig, dreißig Jahren - dichterische Literatur in bestimmten Kreisen mehr wie Sachtexte, also wörtlich. Dass literarische Texte als "Dichtung" eine andere Wahrnehmungsebene installieren, die nichts mit "sich irgendwie ausdenken" zu tun hat, sondern eine ganz eigene Realität hat, für die jeder Mensch Organe besitzt und sie tagtäglich auch nutzt - das kann man da verbal nicht vermitteln.

Ich würde also in dem Punkt zustimmen:
Es gibt unterschiedliche Modi, in denen man Realität wahrnimmt. Die scheinen anthropologisch beschreibbar.

Nach meiner Erfahrung kann man das durchaus bewusst machen - es ist ja in jedem Menschen enthalten -, aber bei denen, für die es existentiell wichtig ist, nur den einen Modus zu aktivieren:
da ist Bewusstmachen vielleicht sogar verfehlt. Denn es wird ja in diesen Menschen einen Grund geben, warum sie andere Modi nicht wahrnehmen möchten.
Und diese Gründe respektiere ich ebenfalls.

Dennoch ist es auch mir ein Anliegen, diese verschiedenen Wahrnehmungsformen zu beschreiben. Und zwar in dem Falle auch mit wissenschaftlichen Methoden. Das darf dann aber nur deskriptiv sein, darf nicht gegen eine bestimmte Weltanschauung gerichtet sein, muss unter allen Umständen wissenschaftlich korrekt sein.

Bislang habe ich bei den Usern dieses Forums da noch keinen Gegenwind spüren können. Ich nehme sie als offen in diesem Punkt wahr. Selbst wenn man die Welt materialistisch versteht, kann man doch als wissenschaftlich Denkender beschreiben, welche anderen Formen der Wahrnehmung es noch gibt, ebenfalls ohne zu werten.

Welche - weltanschaulichen - Prämissen erzeugen welches Realitätsverständnis:
das war doch auch das, was Du irgendwo als untersuchungswürdig geschrieben hast, closs.
Aber als Forscher muss man sich selber erst reinigen von dem Bedürfnis, dem anderen eins auszuwischen oder es ihm zu zeigen.

Ich kenne das auch gut. Mich nerven oft User, die literarische Texte wörtlich lesen.
Mache ich mich aber ran und versuche deren Wahrnehmungsform deskriptiv zu erfassen, dann wird mir klar, dass es deren Verstehen von Realität eben auch GIBT und dass mein Job dann lediglich ist, das in seiner Eigenart zu erfassen - sine ira et studio - ohne Zorn und Eifer.

Um den Bogen zum Threadthema sichtbar zu machen:

Wenn ich einen literarischen Text lese und irgendwie erfasse, dann kann ich - wenn ich das so definiere -, eine Ebene des Lesens als "geistiges Erfassen" benennen.
Wenn es mir gelingt, dieses "geistige Erfassen" so zu beschreiben, dass die, die auch so lesen - ohne den Begriff "geistiges Erfassen" je gehört zu haben und ihn vielleicht auch ablehnen - dennoch als eine ihrer Wahrnehmungsformen beim Lesen wiedererkennen:
dann ist diese Wahrnehmungsform intersubjektiv. Auch dann, wenn nicht alle sie aktivieren können.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#422 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von closs » Do 27. Nov 2014, 11:38

Pluto hat geschrieben:wie will man Annäherung überhaupt feststellen?
Es ist wichtig, dass man nah dran "ist" - das wird sich dann irgendwann schon herausstellen. - Im Christentum sind Verifizierungen NACH dem Daseins-Tod vorgesehen. - Vorher arbeitet man mit gut begründeten Vermutungen - geht nicht anders.

Pluto hat geschrieben: Man GLAUBT es zu wissen, aber man weiß es nicht.
Stimmt - persönlich erkennen, ist nie objektiv "wissen", sondern persönlich "wissen". - Wahrscheinlich ist das auch so gemeint - um es christlich zu formulieren: Gott will nicht, dass geistige Erkenntnis übernommen wird (was leicht geht, wenn ein objektives Ergebnis vorliegt), sondern selbst erworben wird.

Pluto hat geschrieben:Darum kann man Subjektives grundsätzlich nicht als "intersubjektiv" bezeichnen.
Im ursprünglichen Sinne, dass "ein (komplexerer) Sachverhalt für mehrere Betrachter gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist", schon. - Dass die Naturwissenschaft dieser ursprünglichen Bedeutung das Moment der Objektivität hinzugefügt hat, tut der Ursprungsbedeutung keinen Abbruch.

Pluto hat geschrieben: ich muss nichts setzen. Ich kann dies empririsch feststellen.
Doch - Du musst wie Popper setzen, dass sich Deine Wahrnehmung auf "Realität" bezieht und keine solipsistische Veranstaltung nicht. - Dieser Unterschied ist nicht falsifizierbar.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#423 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von closs » Do 27. Nov 2014, 11:40

ThomasM hat geschrieben:Gott mag eine absolute Kategorie sein. Relevant ist von Gott aber nur das, was ich mit meinem Leben verbinden kann.
Einverstanden - was aber nicht zu dem Schluss führen darf, dass Gott deshalb NICHT "Realität" wäre, wenn man mit ihm nichts in seinem Leben verbinden könnte. - Entweder Gott "ist" oder er "ist" nicht - wenn man das nicht kategorial von der Wahrnehmung trennt, bekommt Feuerbach recht.

ThomasM
Beiträge: 5866
Registriert: Mo 20. Mai 2013, 19:43

#424 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von ThomasM » Do 27. Nov 2014, 11:49

closs hat geschrieben:
ThomasM hat geschrieben:Gott mag eine absolute Kategorie sein. Relevant ist von Gott aber nur das, was ich mit meinem Leben verbinden kann.
Einverstanden - was aber nicht zu dem Schluss führen darf, dass Gott deshalb NICHT "Realität" wäre, wenn man mit ihm nichts in seinem Leben verbinden könnte. - Entweder Gott "ist" oder er "ist" nicht - wenn man das nicht kategorial von der Wahrnehmung trennt, bekommt Feuerbach recht.
Auch einverstanden.
Aber deine kategoriale Einteilung würde von dem, der Gott nicht mit seinem Leben verbinden kann, sowieso abgelehnt. Insofern ist nichts gewonnen.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#425 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von Pluto » Do 27. Nov 2014, 11:49

closs hat geschrieben:Im Christentum sind Verifizierungen NACH dem Daseins-Tod vorgesehen.
Das ist genau mein Problem! Es ist ein Vertrösten auf die Zeit nach dem Leben.
Vorher arbeitet man mit gut begründeten Vermutungen - geht nicht anders.
Genau! Wie Betrand Russel sagte, "zu wenig Beweise, Herr".

closs hat geschrieben: persönlich erkennen, ist nie objektiv "wissen", sondern persönlich "wissen".
Du willst Subjektives auf die gleiche Ebene stellen intersubjektive Erkenntis. Darin liegt der Fehler.

closs hat geschrieben:Gott will nicht, dass geistige Erkenntnis übernommen wird (was leicht geht, wenn ein objektives Ergebnis vorliegt), sondern selbst erworben wird.
Ein solches Postulat, im Brustton der Überzeugung ausgesprochen, macht die Aussage nicht wahrer.

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Darum kann man Subjektives grundsätzlich nicht als "intersubjektiv" bezeichnen.
Im ursprünglichen Sinne, dass "ein (komplexerer) Sachverhalt für mehrere Betrachter gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist", schon.
Im urspringlichen Wortsinn mag das anders gewesen sein, doch das ist Schnee von gestern. Ich sprach von Intersubjektivität in unserem heutigen Verständnis.

Dass die Naturwissenschaft dieser ursprünglichen Bedeutung das Moment der Objektivität hinzugefügt hat, tut der Ursprungsbedeutung keinen Abbruch.
Das stimmt. Aber ist die Ursprungsbedeutung heute noch gültig? Ich meine, Nein.

Pluto hat geschrieben: ich muss nichts setzen. Ich kann dies empririsch feststellen.
Doch - Du musst wie Popper setzen, dass sich Deine Wahrnehmung auf "Realität" bezieht und keine solipsistische Veranstaltung nicht. - Dieser Unterschied ist nicht falsifizierbar.[/quote]Nein, lieber closs.
Ich beobachte die Welt nur. Ich muss nicht einmal "setzen", dass die Welt existiert (hatten wir schon), sondern kann sie anhand des Modells der Welt falsi-/verifizieren.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#426 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von closs » Do 27. Nov 2014, 12:12

Savonlinna hat geschrieben:Ich bin in zwei geistigen Diktaturen gleichzeitig aufgewachsen - im radikalen Christentum und im radikalen DDR-Kommunismus.
Beides sind Ideologien. - Wie kann man ohne Erregung von Missverständnissen darlegen, dass Ideologie und Ontologie zwei paar Stiefel sind? - Da scheint es größere Probleme zu geben, als ich dachte.

Ganz nebenbei: Darf ich fragen, wo in etwa Du aus der DDR stammst? - Wir sind nämlich Ossie-Fans, weil wir (das ist nun wirklich OT) festgestellt haben, dass die menschliche Mentalität der Ossies irgendwo zwischen Wessies und Franzosen liegt.

Savonlinna hat geschrieben:closs wie Schloss oder closs wie Schoß?
Wie "Schloss" - das war mein wichtigster Professor, der noch im 1. Weltkrieg gekämpft hat und noch Junglehrer an der Hofburg in Wien war. - Deshalb meine geistige Prägung aus dem 19. Jh.

Savonlinna hat geschrieben: Dass literarische Texte als "Dichtung" eine andere Wahrnehmungsebene installieren, die nichts mit "sich irgendwie ausdenken" zu tun hat, sondern eine ganz eigene Realität hat
Genau das ist der Punkt - wobei wir "Realität" ja wörtlich verstehen wollen: Es "ist" so auch ohne uns.

Und jetzt das Problem: Authentische geistige Wahrnehmungen (Wahrnehmung trifft auf Realität) sind objektiv nicht unterscheidbar von nicht-authentischen "geistigen" Wahrnehmungen. - Es gibt theoretisch unendlich viele Ausführungen von beidem. - Wie unterscheidet man nun? - Dazu gibt es zwei Antworten:

1) Die theoretische/philosophische Antwort, dass echte geistige Wahrnehmung immer "Findung" und nie "Er-Findung" ist - deshalb das Wort "Ontologie".
2) Die praktische Antwort, dass es Menschen gibt, die unbeweisbarerweise beides unterscheiden können.

Ein Beispiel aus der Musik, weil Du selbige erwähnt hast: Beruflich hatte ich lange Zeit mit der Ausrichtung von Klavier-Wettbewerben und habe dabei viele internationale Pianisten (Jury) und Wettbewerbs-Teilnehmer kennengelernt. - All diese Leute kamen aus über 30 Nationen und konnten sich bisweilen sprachlich überhaupt nicht verständigen - trotzdem waren sich ALLE einig, dass man das Stück x von Chopin oder Brahms zwar so oder so oder so spielen kann, aber so nicht oder so nicht oder so nicht. - Mit anderen Worten: Sie habe alle die Substanz der Stücke erkannt (was nur bei großen Komponisten möglich ist), deren Ausdrucksmöglichkeiten erkannt, aber auch erkannt, wie es NICHT geht.

Für einen Musik-Muffel ist das nicht unterscheidbar - für ihn ist das eine laut, das andere leise - das eine gefällt einem, das andere nicht. - Bei geistigen Dingen gilt das generell - man "findet" es oder man findet es nicht -, weshalb ich eine Möglichkeit suche, ohne Verdacht der Ideologisierung sagen zu dürfen "Gott ist kein Stuhl" (ich übertreibe jetzt). - Wie darf man klar machen, dass geistige Ergriffenheit durch etwas, das "ist", nicht dasselbe ist wie egozentrisches Rum-Phantasieren?

Das ist für mich eine ontologische Fragestellung - aber vielleicht lassen wir das Wort weg - Hauptsache, wir sind uns einig, worum es uns geht.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#427 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von closs » Do 27. Nov 2014, 12:19

ThomasM hat geschrieben:Aber deine kategoriale Einteilung würde von dem, der Gott nicht mit seinem Leben verbinden kann, sowieso abgelehnt.
Hmm - aus meiner Sicht ist das keine Glaubenssache, sondern Ausdruck intellektuell-disziplinierten Denkens.

Pluto hat geschrieben: Es ist ein Vertrösten auf die Zeit nach dem Leben.
Nach dem Daseins-Leben - ja. - Mir ist klar, dass solche Denkweisen unter materialistischen Gesichtspunkten nicht funktionieren. - Wie immer: SChlussfolgerungen sind Folge von Setzungen - und diese sind bei christlichem und materialistischem Weltbild extrem unterschiedlich.

Pluto hat geschrieben:Genau! Wie Betrand Russel sagte, "zu wenig Beweise, Herr".
S.o.- als Materialist würde ich dasselbe sagen.

Pluto hat geschrieben:Du willst Subjektives auf die gleiche Ebene stellen intersubjektive Erkenntis.
Für das Subjekt, also den Menschen, JA. - Eine Erkenntnis ist eine Erkenntnis ist eine Erkenntnis. - Methodologisch ist es selbstverständlich NICHT dieselbe Ebene.

Pluto hat geschrieben: Ich sprach von Intersubjektivität in unserem heutigen Verständnis.
Das ändert aber nichts daran, dass es auch im geistigen Sinn üblich ist, dass ein (komplexerer) Sachverhalt für mehrere Betrachter gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist - auch wenn man das Wort "intersubjektiv" weglässt.

Pluto hat geschrieben:Ich muss nicht einmal "setzen", dass die Welt existiert (hatten wir schon)
Genau das ist Deine Setzung: Du setzt, dass Du nicht setzen musst.

Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#428 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von Savonlinna » Do 27. Nov 2014, 13:45

closs hat geschrieben:Ganz nebenbei: Darf ich fragen, wo in etwa Du aus der DDR stammst?
Aus dem Berliner Raum. Aber in der DDR war ich nur die ersten 13 Jahre, und das ist alles lange her.


closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Dass literarische Texte als "Dichtung" eine andere Wahrnehmungsebene installieren, die nichts mit "sich irgendwie ausdenken" zu tun hat, sondern eine ganz eigene Realität hat
Genau das ist der Punkt - wobei wir "Realität" ja wörtlich verstehen wollen: Es "ist" so auch ohne uns.
Den letzten Satz lehne ich als ideologisch ab.
Darüber werde ich aber mit Dir nicht mehr diskutieren, da es für Dich elementar wichtig zu sein scheint, das absolut zu setzen.
Wenn Du meiner von Dir zitierten Aussage zustimmst, auch ohne dass Du diese Deine einschränkende Zusatz-Bedingung machst, dann kann es weitergehen in unserem Gespräch. Wenn nicht, dann muss ich wohl schweigen. Ich kann auch nicht mit jemanden über Literatur diskutieren, der permanent sagt: nur der Materialismus kann Literatur richtig verstehen, und das stimme auch ohne uns Menschen.

closs hat geschrieben:Ein Beispiel aus der Musik, weil Du selbige erwähnt hast: Beruflich hatte ich lange Zeit mit der Ausrichtung von Klavier-Wettbewerben und habe dabei viele internationale Pianisten (Jury) und Wettbewerbs-Teilnehmer kennengelernt. - All diese Leute kamen aus über 30 Nationen und konnten sich bisweilen sprachlich überhaupt nicht verständigen - trotzdem waren sich ALLE einig, dass man das Stück x von Chopin oder Brahms zwar so oder so oder so spielen kann, aber so nicht oder so nicht oder so nicht. - Mit anderen Worten: Sie habe alle die Substanz der Stücke erkannt (was nur bei großen Komponisten möglich ist), deren Ausdrucksmöglichkeiten erkannt, aber auch erkannt, wie es NICHT geht.
Bin nicht sicher, ob ich Deine Aussage richtig verstanden habe.
Bei Solisten ist das wohl häufig der Fall, dass sie dem Komponisten, und nur dem Komponisten dienen wollen. Dennoch ist Fakt, dass durch die Jahrhunderte hindurch die Interpretation von solistischen Werken erheblich differiert. Das kann man mittels Platten und CD's vergleichen.

Auch die heute noch lebenden - oder kürzlich gelebt habenden - Pianisten differieren stark. Und meinen dennoch, dem Komponisten zu dienen.
Sie können eben nie sich selber ausschalten. Es sind sie selber, die eine Schicht im Werk wahrnehmen, die sie als typisch für den Komponisten empfinden.

Was man aber sehr wohl unterscheiden kann - und wer weiß, vielleicht haben die Solisten, von denen Du sprichst, dies gemeint:
ob "wahr" - durch und durch ehrlich - gespielt wird oder eher showmäßig/brilliant.
Vor allem bin ich Theatermensch. Und ich muss als Regisseur unterscheiden können, ob ein Schauspieler blufft, oder ob er - jetzt drücke ich mich mal kitschig aus - "aus der Tiefe seiner Existenz heraus" spielt.
Jeder Vollblut-Theatermensch kann das unterscheiden. Je nachdem, was er bevorzugt, sucht der Oberspielleiter sich seine Schauspieler für sein Stück aus.

Das gilt auch für die Musik. Ich habe dermaßen unterschiedliche Interpretationen durch Dirigenten gehört, die aber alle nichts als der Musik dienen wollten.
Im unterschiedlichem Grad vorhanden ist das Bedürfnis, z.B. Händel wie zu Zeiten Händels im Konzertsaal erklingen lassen zu wollen oder Händel dadurch gerecht werden zu wollen, dass man die modernen Hörgewohnheiten berücksichtigt.
Dann gibt es auch noch das Bedürfnis, Händel interpretatorisch zu erweitern: aber auch mit dem Ziel, "aus der Tiefe der Existenz heraus" zu spielen.
Und dann gibt es die Eitelkeiten, wo die Pianisten ihre tolle Technik aus den Fingern rollen lassen.

Der Witz ist, dass zum Beispiel der Dirigent Nikolaus von Harnoncourt, der eine Weile nur auf Instrumente setzte, die aus der Zeit des Komponisten stammten, und der versucht hat, die damalige Zeit im Klang zu imitieren, selber so genial war, dass er quasi eine völlig neue Sinfonie schuf, vielleicht sogar, ohne es zu merken.

Was ich damit sagen will:
Wahrhaftiges Spiel ist erkennbar - es kann aber dasselbe Chopin-Stück von verschiedenen Musikern, die "wahrhaftig" spielen, in allen seinen Facetten unterschiedlich gedeutet sein.
Immer also ist der interpretierende Mensch mitsamt seiner ganzen Existenz drin enthalten und Bedingung für die Wahrhaftigkeit.
Also es gibt keine Wahrhaftigkeit ohne den erkennenden Menschen.

closs hat geschrieben:Wie darf man klar machen, dass geistige Ergriffenheit durch etwas, das "ist", nicht dasselbe ist wie egozentrisches Rum-Phantasieren?
Das kann man nicht klar machen. Man muss einen Resonanzkörper in sich haben, der dann zu schwingen anfängt. Den kann man aber entwickeln. Und man hat ihn mitunter auch selber erst entwickelt.
Noch ein Beispiel:
ein großer Geigenspieler - Yehudi Menuhin - hat an einem Abend, wo ich hinter der Bühne ganz nahe dabei war - ein Solostück gespielt, wo ich, die dazu eigentlich nicht neigt, heulte wie ein Schlosshund. Er spielte wie ein Kind, ganz versunken, alle Eitelkeit, allen Showcharakter hinter sich lassend, einfach von dem, dass alles so ist, wie es ist. Das Brutalste, was ich damals kannte. Alles ist gnadenlos das, was es ist.
Als ich in der Pause dann meine Freunde im Saal sah, hatten die rote Augen. Sie haben geheult wie ich.

Das nenne ich in einem gewissen Sinne "intersubjektiv". Es klang nicht nur in mir diese Saite an.
Solche "Saiten" scheinen in uns Menschen als Menschen vorhanden zu sein.
Wenn man das aber mit ideologischen oder religiösen Begriffen beschreibt, dann wird das von der Gegenseite geleugnet, weil man eben diese Religion oder diese Ideologie ablehnt.

closs hat geschrieben:Das ist für mich eine ontologische Fragestellung - aber vielleicht lassen wir das Wort weg - Hauptsache, wir sind uns einig, worum es uns geht.
Genau.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#429 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von closs » Do 27. Nov 2014, 15:28

Savonlinna hat geschrieben:Den letzten Satz lehne ich als ideologisch ab.
Merkwürdig - mit Deinen weiteren Ausführungen bestätigst Du exakt, was ich sage, lehnst aber ab, WIE ich es sage. - Aber das macht nichts, solange Du beschreibend für mich verständlich bist - dann lassen wir halt theoretische Begriffe weg.

Savonlinna hat geschrieben:Bin nicht sicher, ob ich Deine Aussage richtig verstanden habe.
Du hast selber die Antwort gegeben:
Savonlinna hat geschrieben:Wahrhaftiges Spiel ist erkennbar

Savonlinna hat geschrieben:Also es gibt keine Wahrhaftigkeit ohne den erkennenden Menschen.
Logisch - "Wahrhaftigkeit" ist ein Begriff der Wahrnehmungs-Ebene und nicht der Seins-Ebene. - Oje .... :oops: :angel:

Savonlinna hat geschrieben:Das nenne ich in einem gewissen Sinne "intersubjektiv".
Ja - "Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen" (Goethe)

Savonlinna hat geschrieben:Solche "Saiten" scheinen in uns Menschen als Menschen vorhanden zu sein.
Das meine ich mit "geistiger Transzendenz-Fähigkeit", die jeder hat - ob sie aktiviert ist oder nicht.

Savonlinna hat geschrieben:Wenn man das aber mit ideologischen oder religiösen Begriffen beschreibt, dann wird das von der Gegenseite geleugnet, weil man eben diese Religion oder diese Ideologie ablehnt.
Deshalb müsste man eigentlich ab sofort schweigen und vorleben - intellektuell kommt man möglicherweise wirklich nicht durch. - Die Christen in meinem Umfeld, in denen wirklich die christlichen Saiten schwingen, sind dementsprechend zurückhaltend, was Erklärungen angeht. - Sie "wissen" und tun.

Allerdings muss ich gestehen, dass ich es als eine Niederlage der Intellektualität empfinde, wenn glasklare Sache mit intellektueller Sprache offebar nicht vermittelbar sind - aber das haken wir mal als MEIN Problem ab.

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#430 Re: Was genau ist denn Geist?

Beitrag von Pluto » Do 27. Nov 2014, 17:29

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: Es ist ein Vertrösten auf die Zeit nach dem Leben.
Nach dem Daseins-Leben - ja. - Mir ist klar, dass solche Denkweisen unter materialistischen Gesichtspunkten nicht funktionieren. - Wie immer: SChlussfolgerungen sind Folge von Setzungen - und diese sind bei christlichem und materialistischem Weltbild extrem unterschiedlich.
Wie schon gesagt, in der Welt (du nennst es "Dasein") mus man nichts setzen. Wahre Erkenntnis lässt sich falsfizieren.

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Genau! Wie Betrand Russel sagte, "zu wenig Beweise, Herr".
S.o.- als Materialist würde ich dasselbe sagen.
Ideologische schubladiserung ist kein Sachargument.
Betrand Russel war übrigens Philosoph und Naturwissenschaftler.

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Du willst Subjektives auf die gleiche Ebene stellen intersubjektive Erkenntis.
Für das Subjekt, also den Menschen, JA. - Eine Erkenntnis ist eine Erkenntnis ist eine Erkenntnis.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass du den Begriff "Erkenntnis" falsch interpretierst.
Was für den Gläubigen wie Erkenntnis aussieht, ist für den Skeptiker Glaube ohne Beweise (vgl. Betrand Russel).

closs hat geschrieben: Das ändert aber nichts daran, dass es auch im geistigen Sinn üblich ist, dass ein (komplexerer) Sachverhalt für mehrere Betrachter gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist - auch wenn man das Wort "intersubjektiv" weglässt.
Nein. Das bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Erkenntnis entsteht nicht, in dem man Beobachter selektiert. Der Schlüssel zur Erkenntnis liegt in der Intersubjektivität der Wahrnehmung, und zwar nicht nur manchmal wenn es gerade passt, oder man mit der Auswahl der Beobachter herumhantiert bis es passt.
Erkenntnis ist wenn für jedermann wahrnehmbar, jederzeit unter gleichen Bedingungen reproduzierbar, dasselbe Ergebnis erziehlt wird.

closs hat geschrieben:Du setzt, dass Du nicht setzen musst.
Hoppla!? Nun hast du mich erwischt. :oops:
Der Witz dabei ist, dass die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik trotzdem funktionieren. Und zwar wirklich intersubjektiv.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Antworten