SilverBullet hat geschrieben: ↑Mo 7. Dez 2020, 10:19
Bestimmt kann man analytische Verdachtsmomente durch Fundstücke und Hieroglyphentexte in gewisser Weise absichern, aber verhindert dies, dass wir uns ein "eigenes Ägypten" suchen?
(meine Frage kann man bestimmt auch auf viele andere alte Kulturen ausweiten)
Lass mich von unten anfangen... konstruieren wir uns nur "unser eigenes Ägypten"?
Ja, in einem gewissen Maße schon. Das ist unvermeidlich.
Die Geschichtswissenschaft insgesamt ist sich heute zum Glück bewusst, wie schwierig- wenn nicht gar unmöglich - eine objektive Auswertung der historischen Quellen und
Überreste ist. So, wie alles andere in der Welt, bewerten wir natürlich auch die Geschichte immer im Kontext unserer eigenen Prägungen und Vorurteile.
Ich bin mir sicher, dass wir mit einigen Interpretationen falsch liegen. In der Ägyptologie wird viel und ausgiebig gestritten und was des einen Menschen Lieblingstheorie wird in der Rezension der Kollegin eventuell scharf kritisiert. Mit der Überarbeitung älterer Übersetzungen, dem Fund und der Auswertung neuer Texte und dem Fortschreiten der
wissenschaftlichen Methoden wird immer wieder neu in Frage gestellt, was wir über Ägypten zu wissen glauben. Und das ist sehr gut so, denn dadurch werden allzu gewagte Interpretationen systematisch geprüft und hinterfragt.
Können wir uns überhaupt über irgendetwas sicher sein? Nun ja, wir haben zumindest einiges mehr an Quellenmaterial als in den meisten anderen Kulturen der Bronzezeit.
Wir haben so viele ägyptische Texte, dass die Entschlüsselung der Sprache relativ vollständig ist.
Durch die Vielzahl an Belegstellen für ein einziges Wort oder eine grammatische Form kann man jeden Übersetzungsvorschlag mehrfach überprüfen. (dazu gibt es inzwischen auch eine Belegstellendatenback online, den Thesaurus Linguae Aegyptiae unter
http://aaew.bbaw.de/tla/servlet/TlaLogin )
Das hält die Ägyptologie natürlich nicht davon ab, das Bedeutungsspektrum und die beste Übersetzung eines einzelnen Begriffs in endlosen Fachartikeln zu debattieren... und wiederum, das ist auch gut so.
SilverBullet hat geschrieben: ↑Mo 7. Dez 2020, 10:19
Für den Bereich der Kunst, insbesondere abstrakte Kunst, habe ich es mir angewöhnt einen eigenen Weg
in das Bild zu finden und quasi eine Geschichte zu durchleben (die im günstigsten Fall an den Künstler weitergeleitet wird - Künstler freuen sich sehr darüber).
In Bezug auf Ägypten steht uns (wenn ich es richtig verstanden habe) kein "aktiver Umgang" mit den Hieroglyphen mehr zur Verfügung.
Was denkst du, könnte es sein, dass wir bei der Erforschung/Entdeckung der ägyptischen Kultur, auch ein wenig einen eigenen Weg "ins Bild" finden, quasi die Mythologie für uns aufbereiten, es aber als "die damalige Sicht" einordnen?
Klar, ein Interpretationsspielraum bleibt immer. Aber was meinst du mit "aktivem Umgang"? Da wir die Texte lesen können, müssen wir uns zumindest nicht zu jedem Kunstwerk eine Geschichte frei ausdenken, wir können es einfach in den Worten der Vorfahren nachlesen. Praktischerweise sind fast alle Wandbilder und viele Statuen beschriftet (ich halte die Ägypter für die Erfinder des Comics: die Reliefs enthalten sowohl "Sprechblasen" als auch kommentierende Beischriften)
Dabei hat die Hieroglyphenschrift, im Gegensatz zur hieratischen Schreibschrift, niemals ihren Bildcharakter ganz verloren und steht immer in unmittelbarer Beziehung zu Bild oder Statue. Beispielsweise kann man bei den "Sprechblasen" erkennen, wer angesprochen wird - denn die Leserichtung ist so gewählt, dass sie auf die Zielfigur passt. Wenn sich also im Tempelrelief ein König und eine Gottheit gegenüberstehen, so ist die Beischrift des Königs auf den Gott, und die des Gottes auf den König gerichtet.
Und wenn man in einem Text den Namen eines Menschen schreibt, dann setzt man am Ende ein Deutzeichen in Gestalt eines Menschen. Wenn man aber eine Statue mit den Namen der dargestellten Person beschriftet, dann lässt man das Deutzeichen weg, denn die Statue ist das Deutzeichen.
Und, noch ein berühmtes Beispiel, die Rebusstatuen. Wenn also die Königin Mutemwia in einem Boot sitzend dargestellt wird,
so könnte man ihre Gestalt auch als die der Göttin Mut interpretieren, die in ihrer Barke sitzt, und eben dies ist die Bedeutung des Namens
"Mutemwia": "Mut in der Barke".
https://www.britishmuseum.org/collection/object/Y_EA43
Ebenso wie die Dastellung von Ramses als junger Prinz, der eine Sonnenscheibe als Krone trägt und in der
Hand die Wappenpflanze Oberägyptens hält, die Binse. Dann kann man das lesen als Ra(Sonne)-Mes(Kind)-Su(Binse). Also Ramessu. Ramses.
https://en.wikipedia.org/wiki/Rebus#/me ... _child.jpg
Worauf ich damit hinaus will? Eigentlich dies: Wenn ich ein ägyptisches Kunstwerk oder einen Text interpretiere und dabei eine gewollten Mehrdeutigkeit oder einen hintergründigen Symbolgehalt postuliere, dann mag ich mit meiner Deutung im Detail falsch liegen, aber nicht damit, dass es einen Symbolgehalt gibt.
Denn eine Kultur, die ihre Schrift aus Rebusrätseln entwickelt hat und diese komplexe, bildhafte Form der Schrift über 3000 Jahre beibehält OBWOHL ein viel simpleres Konsonantenalphabet vorhanden war (und zum buchstabieren von Fremdworten benutzt wurde)... eine solche Kultur wird mit Sicherheit Texte und Kunstwerke hervorbringen, die auf mehreren Ebenen wirken.
Übrigens gibt es eine Theorie wonach unser heutiges Alphabet in seiner urtümlichsten Form aus Ägypten stammt, wenn auch nicht von den einheimischen ÄgypterInnen. Die Wadi el-Hol Inschriften lassen den Schluss zu, dass levantinische Einwanderer aus einigen Einkonsonantenzeichen (eine Klasse von Hieroglyphenzeichen) ihr eigenes Alphabet zusammensetzten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wadi-el-Hol-Schrift
liebe Grüße
Mirjam