Neue Ethik?

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sven23
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#1 Neue Ethik?

Beitrag von sven23 » So 31. Jan 2016, 10:22

Vielfach wir im Zusammenhang mit Jesu Ethik von einem Paradigmenwechsel gesprochen. Aber war diese Ethik wirklich so neu und vor allem: war sie praktikabel?

Sicher war Jesus einerseits wie viele andere zeitgenössischen jüdischen Sekten für eine Thoraverschärfung, andererseits wollte er Regeln lockern.

"Hat Jesus also eine neue Ethik gebracht? Man wird dies eher (mit Bultmann und
anderen) verneinen müssen, trotz aller Fragezeichen, die die Überlieferungsgeschichte in
den Weg stellt. Jesu Ethik lässt sich aus dem Judentum und aus seiner Umwelt herleiten.
Dies gilt ausdrücklich auch für das Liebesgebot. Dass er in Einzelfragen eine andere
Meinung hatte als die jüdische Tradition, ändert daran nichts. Seine offenbare Ablehnung
der Ehescheidung (Matthäus schränkt schon ein „außer im Falle von Unzucht“), seine
grundsätzliche Ablehnung des Eides, seine höhere Achtung Frauen gegenüber und
Kindern (wenn uns hier die Überlieferung nicht auch wieder einen Streich spielt),
freundliche Züge sicherlich, sind kaum geeignet eine neue Ethik zu begründen. Seine
Warnung vor Reichtum und die Aufforderung, Schätze zu sammeln, die nicht von Rost
und Motten gefressen werden, haben ebenfalls keinen wirklichen Neuigkeitswert,...
...
Wenn er keine neue Ethik gebracht hat, so hat er zumindest ethische Verwirrung
gestiftet, wie vor allem an der Bergpredigt Mt 5–7 und der Frage, wie diese zu verstehen
sei, deutlich wird. Die radikalen Forderungen Jesu (sofern er sie im Einzelfall denn
wirklich so vertreten hat) haben früh zur Frage geführt, wie diese denn gelebt werden
können. Man sah sie bald als den Mönchen vorbehalten an, während für die einfachen
Gläubigen auch eine Sittlichkeit auf niedrigerer Stufe akzeptabel war. Als eine allgemein
verbindliche Grundlage einer öffentlichen Ordnung haben auch große Teile des
Protestantismus, vor allem des Luthertums, die Bergpredigt nicht gesehen, bestenfalls als
Richtschnur für den einzelnen Gläubigen. Dieses Denken setzte sich fort in der
Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Auch hier steht im
Hintergrund die Meinung, dass die Bergpredigt nicht praktikabel ist. Ein schöner Vogel,
der aber nicht fliegen kann, zur Erbauung geeignet, aber zum Aufbau eines
Gemeinwesens nicht zu gebrauchen. Die eleganteste Lösung ist hier vielleicht das
Verständnis der Bergpredigt als Interimsethik, so vertreten z. B. von Albert Schweitzer.
Demnach sei die Bergpredigt gar kein allgemeines Gesetz, sondern von Jesus nur
vorgesehen für die kurze Zeit bis zur Aufrichtung und Ankunft des Gottesreiches, eine
Ethik für zwischendurch, eben Interimsethik. Jesus habe gar keine allgemeinen Regeln
geben wollen, warum auch, wenn der neue Äon, das Reich Gottes unmittelbar bevorstand.
Und dass dies so sei, war für Jesus eine ausgemachte Sache.
"

Kubitza, Jesuswahn (farbliche Hervorhebung von mir)

Als Fazit kann man sagen: die Ethik war so neu nicht und sie war nicht widerspruchsfrei. Als Interimsethik ist sie vielleicht noch am verständlichsten, weil sie nicht geeignet ist, ein komplexes Gemein- oder Staatswesen auf Dauer zu tragen.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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sven23
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#2 Re: Neue Ethik?

Beitrag von sven23 » Sa 6. Feb 2016, 07:02

Die "Interimsethik" Jesu ist also keine auf Dauer angelegte Ethik und in der Praxis für ein Staatswesen wenig praktikabel.
Auch dies ist wiederum der Erwartung des nahen Gottesreiches geschuldet. Wer das baldige Ende der bestehenden Ordnung erwartet, der macht keine langfristigen Pläne mehr.
„Als Jesus den gegenwärtigen Beginn der Gottesherrschaft verkündigte, rechnete er mit deren Kommen während seines Lebens.“
Gerd Theißen
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sven23
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#3 Re: Neue Ethik?

Beitrag von sven23 » Sa 6. Feb 2016, 15:58

War die Ethik Jesu wirklich ein Paradigmenwechsel? Zweifel sind berechtigt.

"Gegen dieses Bild (der neuen Ethik) jedoch hat die neutestamentliche Forschung erhebliche Einwände
angemeldet. Jesus wird heute viel stärker innerhalb der Grenzen des Judentums und der
jüdischen Theologie gesehen und viel weniger als Künder einer neuen Ethik. Was heute
im Bewusstsein der Gläubigen noch als revolutionär in seiner Predigt gilt, war vielfach im
Judentum oder der hellenistischen Umwelt vorgeprägt. Jesus verkündigte kaum Neues.
Vor allem finden sich in der rabbinischen Literatur viele Parallelen zu zentralen Inhalten
seiner Verkündigung, und war Jesus früher noch der machtvolle Verkündiger einer
gänzlich neuen Lehre, so sieht man ihn heute als eine Stimme im Chor einer lebendigen
rabbinischen Diskussion."
...
Gelten auch viele der Thesen Reimarus’ heute als überholt, so hat er doch die Erforschung des
Lebens Jesu mit seinen Schriften maßgeblich angestoßen. Seine Anschauung, dass Jesus
eine jüdische Ethik vertrat, ist in modifizierter Form auch heute weitgehend Konsens.
Damit einher geht eine Revision des Bildes vom Judentum, wie es uns in den
neutestamentlichen Schriften begegnet. Denn das Neue Testament transportiert ein
Zerrbild. Es ging den Christen der ersten Generation ja vielfach darum, sich von den
Juden abzugrenzen, die nicht bereit waren, den Handwerkersohn aus Nazareth als
Messias anzunehmen. Die Juden wurden zum Gegner, und deshalb wurde in der
christlichen Literatur auch Jesus selbst schon zu einem Gegner der Juden gemacht.
Verzerrungen, Karikierungen oder Verkürzungen prägen das Bild der Juden schon in den
Evangelien und in der Briefliteratur."

Kubitza, Der Jesuswahn

farbliche Einfügung in Klammern von mir

Im NT finden sich also schon deutliche antijudaistische Tendenzen, die man, wenn man es zynisch betrachtet, als Paradigmenwechsel bezeichnen könnte. Der Jude Jesus wird zum Antijuden stilisiert. Das hat die Forschung als christliche Legende entlarvt.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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Savonlinna
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#4 Re: Neue Ethik?

Beitrag von Savonlinna » Sa 6. Feb 2016, 16:07

Sollen wir das Thema behandeln, sollen wir an Kubitzas Thesen Ideologiekritik betreiben oder dürfen wir auch blind an Kubitza glauben und in senem Kielwasser die Wahrheit finden?

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sven23
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#5 Re: Neue Ethik?

Beitrag von sven23 » Sa 6. Feb 2016, 16:10

Savonlinna hat geschrieben:Sollen wir das Thema behandeln, sollen wir an Kubitzas Thesen Ideologiekritik betreiben oder dürfen wir auch blind an Kubitza glauben und in senem Kielwasser die Wahrheit finden?
Ganz nach Belieben, das ist ein freies Land. ;)
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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#6 Re: Neue Ethik?

Beitrag von Pluto » Sa 6. Feb 2016, 16:24

Ich mag es kurz und knapp. Deshalb...

Alte Ethik (des AT): Liebe deine Nachbarn.
Neue Ethik (NT): Liebe deine Feinde.

Weder das eine noch das andere finde ich praktikabel.
Ich liebe sie nicht, aber ich respektiere ihr Recht auf Existenz als Menschen.
Viel mehr Sinn macht:
  • Lass es nicht so weit kommen, Nachbarn und Feinde umzubringen.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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sven23
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#7 Re: Neue Ethik?

Beitrag von sven23 » Sa 6. Feb 2016, 16:37

Pluto hat geschrieben:Ich mag es kurz und knapp. Deshalb...

Alte Ethik (des AT): Liebe deine Nachbarn.
Neue Ethik (NT): Liebe deine Feinde.

Weder das eine noch das andere finde ich praktikabel.
Ich liebe sie nicht, aber ich respektiere ihr Recht auf Existenz als Menschen.
Viel mehr Sinn macht:
  • Lass es nicht so weit kommen, Nachbarn und Feinde umzubringen.

Sehr gut. :thumbup:
Dem würde ich zustimmen.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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#8 Re: Neue Ethik?

Beitrag von Pluto » Sa 6. Feb 2016, 17:53

Das mit der Ethik ist nicht einfach.

Man soll Empathie für andere Menschen empfinden, und ihnen helfen. Doch so einfach ist es nicht, denn dieses Gebot beißt sich oft mit dem was als "fair" empfunden wird.
Beispiel: Das Flüchtlingsproblem: Die vielen freiwilligen Helfer sind echt zu bewundern. Nur... es gibt viele Menschen, die diese Hilfe auch als unfair empfinden, weil sie selbst sich durch die "Gesellschaft" allein gelassen und vernachlässigt fühlen. Dieser Frust manifestiert sich dann in Organisationen wir Pegida und Antifa.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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