Michael von Brück: die rhythmische Religion

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Demian
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#1 Michael von Brück: die rhythmische Religion

Beitrag von Demian » Fr 25. Okt 2013, 22:21

Michael von Brück: Der Atheist kann und will die Sinn stiftenden Rituale der Religion nicht ersetzen. Warum sollte er auch?

Religion setzt das Leben des Menschen mit den von der Natur vorgegeben Rhythmen in Beziehung. Dadurch, dass Religion immer das Ganze im Blick hat, hat sie im Lauf der Geschichte das Monopol über die Riten des menschlichen Zusammenlebens gewonnen. Warum? Weil der Mensch mit nicht weniger als dem Ganzen zufrieden ist. Und der Ritus stellt den Zusammenhang her zwischen dem Individuum und dem Ganzen, das das Individuum umgibt. Und das in allen Lebensphasen: Geburt, Reife, Alter, Tod.

Die von der Religion gestifteten Rituale leben von der Wiederkehr immergleicher Abläufe und schaffen so Sicherheit: Nehmen sie den Sonnenkreislauf oder das Neujahr. Es gibt die Garantie, dass beides Jahr für Jahr wiederkehrt. Diese ritualisierte Sicherheit steht allerdings schon seit es Religion gibt in krassem Widerspruch zu dem, was dem Menschen in seinem Leben widerfährt: Ihm begegnet immer Neues, nicht Vorhersehbares. Dieses Neue macht den Menschen bange. Auch diese Angst verarbeitet er in Ritualen. Das Zufällige wird in den Kontext des Größeren gestellt – wie im Himmel so auf Erden – und nimmt dem Leben jede Zufälligkeit. Es entsteht ein Sinn.
Die drei Spielarten des Atheismus

Inzwischen ist der Atheismus allerdings auf dem Vormarsch. Immer mehr Menschen identifizieren sich als nicht-religiös. Es stellt sich daher die Frage, ob der Atheismus eine ähnliche Form von Ritualen ausbilden kann. Und eine Antwort zu finden, müssen wir also auf den Atheismus schauen, wie er uns in der westlichen, vom Christentum geprägten Welt begegnet. In Europa treten drei Spielarten des Atheismus auf:

Die erste ist die Ablehnung eines biblischen Gottes, der die Welt erschafft, sie von außen lenkt und der Welt gegenübersteht. Es geht dabei um theoretische Fragen: Wenn Gott der Welt gegenübersteht, dann begrenzt die Welt Gott. Er hat aber keine Grenzen – sprechen wir hier also wirklich von ihm?

Die zweite Form des Atheismus zielt nicht auf die Ablehnung Gottes, sondern auf die Ablehnung der Kirche als Institution. In diesem Sinne war Jesus der erste Atheist: Auch er hat den Tempelbetrieb in Jerusalem und die religiösen Autoritäten seiner Zeit massiv kritisiert. Diese Form der Kritik kann also von außen kommen oder auch aus dem Inneren der Kirche selbst.

Die dritte Form des Atheismus ist die Gleichgültigkeit oder die Ablehnung, sich mit der Religion überhaupt zu beschäftigen. Den Ursprung dafür sehe ich in der modernen Lebenshaltung. Bewusst oder unbewusst wird heutzutage die Geschichte der Religion kritisiert: die Gewaltgeschichte des Christentums, die konfessionelle Spaltung, und natürlich auch die undemokratische Struktur der Kirche. Seit dem 19. Jahrhundert ist diese Form der Religionskritik bereits en vogue. Damals fanden viele Arbeiter ihr neues Evangelium im Marxismus.
Rituale sind unabhängig von politischen Moden

Dieser dritten Form des Atheismus gehören heute die meisten Menschen an. Obwohl sie formal oftmals noch zu den Kirchen gehören, haben sie mit der religiösen Praxis nicht mehr viel zu tun. Hinzu kommt, dass die moderne Industriegesellschaft und ihr Sozialstaat Institutionen geschaffen haben, die viele Aufgaben übernommen haben, die früher die Domäne der Kirche waren, wie zum Beispiel die Krankenpflege oder die Altersversorgung.

Kann der Atheismus in Europa, so wie wir ihn hier bestimmt haben, die Rolle übernehmen, die früher das Christentum für die Gesellschaft hatte? Kann er Riten ausprägen, die das große Ganze erklärbar machen? Nehmen wir die Französische Revolution, die erste atheistische Politbewegung der Neuzeit. Sie hat nicht nur alte Rituale abgeschafft, sondern auch neue eingeführt. Erfolglos wurde zum Beispiel eine neue Zeitrechnung eingeführt. Warum erfolglos? Weil Rituale niemals abhängig erlebt werden von politischen Moden und Machtkonstellationen.

Die Rituale der Religionen wachsen über Jahrtausende und wirken dadurch stabilisierend. Sie sind dem Zeitlichen entrückt und deuten es dennoch. Wir feiern zum Beispiel das Weihnachtsfest. Ein neues Ritual dafür zu konstruieren, würde den Atheisten mehr als schwer fallen. In der ehemaligen DDR ist das beispielsweise nie geglückt. Gelungen ist es hingegen, die Jugendweihe als Alternative zur Konfirmation zu etablieren. Dieses Ritual ist das einzige originär atheistische, das sich in unseren Breiten findet. Es hat sich auch nach der Wende gehalten.
Die Quadratur des Kreises

Politisch wird der Atheismus keine Wirkmacht entfalten. Ich vermute, das liegt daran, dass ein kämpferischer Atheismus, der sich politisch Gehör verschaffen möchte, auf wenig Resonanz trifft – gerade wegen der europäischen Gewaltgeschichte, die viel mit Religion zu tun hatte. Die Menschen in Europa sind entweder sehr aktiv religiös oder sie verabschieden sich komplett von der Religion. An die Stelle der Religion tritt dann aber nicht der Atheismus als offensives Bekenntnis, wie auch die Religion ein Bekenntnis ist. Atheismus ist etwas anderes als Religion.

Wollte der Atheismus Rituale ausprägen, wie es die Religionen im Lauf der Jahrtausende gemacht haben, dann müsste ihm die Quadratur des Kreise gelingen: Seine Rhythmen müssten so nachhaltig wie die der Religion sein. Der Atheismus müsste einen Bezug herstellen zwischen den kosmischen Abläufen des universalen Geschehens und den individuellen Erfahrungshorizonten der Menschen und diesen Bezug ritualisiert inszenieren.

Dem Atheismus, der sich, wie wir heute beobachten, politisch formiert, um den Einfluss von Religion auf den Staat und die Politik zu unterbinden, dürfte das ziemlich egal sein.


Quelle

Bild
Basilica di San Pietro in Vaticano: Der Petersdom

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