Warum haben wir ein Weltbild?

Säkularismus
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Pluto
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#31 Re: Warum haben wir ein Weltbild?

Beitrag von Pluto » Do 12. Mai 2016, 13:30

Savonlinna hat geschrieben:Zum Beispiel beboachte ich immer wieder, dass ich oft lange nicht auf einen Namen komme, an den ich lange nicht mehr gedacht habe:
und plötzlich ist er dann aus heiterem Himmel wieder da.
[...]

Dann war ich irgendwann mal wieder in dieser Stadt, wo der Autobesitzer vor 20 Jahren, wie ich auch, studiert hatte und wo ich jedesmal, wenn ich um die Ecke bog, mich herzklopfend fragte: Steht das Auto da, wenn ich um die Ecke gegangen bin, oder steht es da nicht?
Ich kam nun also - 20 Jahre später - dieser erwähnten Ecke näher - und in dem Moment, wo ich um die Ecke bog, fiel mir diese Autnummer wieder ein.
Genau in dem Moment, wo ich mit keinem Körper den Schwenk um die Ecke machte.
So was passiert eben.
Innerlich warst du vermutlich bereit das Auto zu sehen. Die freudige Antizipation brachte das vergessen geglaubte Autokennzeichen in dein Gedächtnis.

Savonlinna hat geschrieben:Woraus ich nun schließe:
Erinnerung ist an Gestisches, an Bewegung gekoppelt. Erinnerung muss sich immer an etwas Dynamisches hängen, damit man sie hochziehen kann.
Da kann ich dir nicht folgen. Warum Bewegungen?
Ich denke Erinnerungen sind etwas körperlich physisches. Da kann Bewegung hilfreich sein, aber niemals notwendig.

Savonlinna hat geschrieben:Ich habe beobachtet, dass dieser Erinnerungsfilm sich im Laufe der Jahrzehnte verändert: nicht verblasst, sondern durchaus klar bleibt, manchmal sogar noch klarer wird, aber trotzdem sich mitunter stark verändert.
Stimmt. Unser Langzeitgedächtnis ist darin sehr gut. Es gibt manche Dinge, selbst aus der Kindheit, die man niemals vergisst.
Aber das Gehirn, die Erinnerung ist nicht perfekt, wie man folgenden Beispielen erkennt: Trug die Kassiererin gestern ein Brille? Hatte sie blondes oder braunes Haar? Trug sie ein dunkles T-shirt oder eine helle Bluse?

Savonlinna hat geschrieben:Und dann fand ich einen Artikel in einer pschylogischen Zeitschrift, wo genau das auch stand:
die Erinnerung verändert sich, und zwar aus finalen Gründen:
sie hat nämlich einen Zweck: Material z.B. für eine Konfliktsituation hochzuschieben.
Man speichere also die Erinnerungen, um Material zu haben für akute Fragen.
So ähnlich verstehe ich es auch. Warum beschränkt der Autor das auf akute Fragen? Ich meine, es hilft in JEDER Lebenslage, Entscheidungen auf Grund von Erinnerungen zu treffen.

Savonlinna hat geschrieben:Und weil der Mensch sich in seinen Fragen verändere - so die Zeitschrift -, verändert sich auch der Film.
So sehr nun auch wieder nicht.
Ich vermute eher, dass du (und alle anderen) mindestens seit der Pubertät dasselbe ICH-Gefühl hast.
Im Gegenteil, ich denke wir verändern uns äußerlich mehr als innerlich — das erkenne ich jedes Mal wenn ich in den Spiegel schaue. :lol:

Savonlinna hat geschrieben:Wenn das Weltbild dazu dient, mit akuten Fragen klarzukommen, dann schiebt der Erinnerungskanal Material hoch, das sich klammheimlich inzwischen verändert hat, also vergilbtes und unbrauchbares Material quasi durch neueres und sinnvolleres Material ersetzt hat.
Die Erinnerung arbeitet also konstruktiv mit. :D
Wenn sich die Erinnerung zu stark verändert, können Illusionen entstehen, anstatt "nur" Erinnerungen.
Savonlinna hat geschrieben:Auch sie ist lebendig und nicht statisch.
Ja. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Es verändern sich meistens nur die Details. Was ich damit sagen will, unser Langzeitspeicher ist gut geeignet "Filme" aus der Vergangenheit vorzuführen.
____________________________

Nicht das hier der Eindruck entsteht, ich glaubte an einen tatsächlichen Beobachter im Gehirn oder irgendetwas, was mit einer tatsächlichen Leinwand zu tun hätte. Ich lehne deshalb auch den Begriff "Kopf-kino" ab.
Es geschieht alles im virtuellen Raum in Form von elektromagnetischen Schwingung feuernder Neuronen. Das finde ich so wunderbar an unserem Gehirn; die Vorstellungen der Vergangenheit sind unglaublich realistisch. Vielleicht müssen sie es auch sein, denn sie bilden den Maßstab dafür, wie wir die Welt erleben.
Entsteht so unser Weltbild?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#32 Re: Warum haben wir ein Weltbild?

Beitrag von Savonlinna » Do 12. Mai 2016, 14:41

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Zum Beispiel beboachte ich immer wieder, dass ich oft lange nicht auf einen Namen komme, an den ich lange nicht mehr gedacht habe:
und plötzlich ist er dann aus heiterem Himmel wieder da.
[...]

Dann war ich irgendwann mal wieder in dieser Stadt, wo der Autobesitzer vor 20 Jahren, wie ich auch, studiert hatte und wo ich jedesmal, wenn ich um die Ecke bog, mich herzklopfend fragte: Steht das Auto da, wenn ich um die Ecke gegangen bin, oder steht es da nicht?
Ich kam nun also - 20 Jahre später - dieser erwähnten Ecke näher - und in dem Moment, wo ich um die Ecke bog, fiel mir diese Autnummer wieder ein.
Genau in dem Moment, wo ich mit keinem Körper den Schwenk um die Ecke machte.
So was passiert eben.
Innerlich warst du vermutlich bereit das Auto zu sehen. Die freudige Antizipation brachte das vergessen geglaubte Autokennzeichen in dein Gedächtnis.
Ich suche nach dem, wie die Psyche arbeitet: Was braucht sie als Auslöser, um Vergessenes bewusst zu machen?

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Woraus ich nun schließe:
Erinnerung ist an Gestisches, an Bewegung gekoppelt. Erinnerung muss sich immer an etwas Dynamisches hängen, damit man sie hochziehen kann.
Da kann ich dir nicht folgen. Warum Bewegungen?
Ich denke Erinnerungen sind etwas körperlich physisches. Da kann Bewegung hilfreich sein, aber niemals notwendig.
Ich versuche mich heranzutasten, indem ich Beobachtungen sammele.
Wenn Du für dieses Forum erwartest, dass ich fertige Theorien bringen muss, aber kein "work in progress" - also lautes Denken, oder gemeinsames Denken - , dann komme ich in vierzig Jahren wieder.

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Ich habe beobachtet, dass dieser Erinnerungsfilm sich im Laufe der Jahrzehnte verändert: nicht verblasst, sondern durchaus klar bleibt, manchmal sogar noch klarer wird, aber trotzdem sich mitunter stark verändert.
Stimmt. Unser Langzeitgedächtnis ist darin sehr gut. Es gibt manche Dinge, selbst aus der Kindheit, die man niemals vergisst.
Aber das Gehirn, die Erinnerung ist nicht perfekt, wie man folgenden Beispielen erkennt: Trug die Kassiererin gestern ein Brille? Hatte sie blondes oder braunes Haar? Trug sie ein dunkles T-shirt oder eine helle Bluse?
Stimmt. Es prägt sich nur ein, was einem wichtig ist und wie man gebaut ist.
Meine Erinnerung ist am genauesten bei Akustischem.

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Und dann fand ich einen Artikel in einer pschylogischen Zeitschrift, wo genau das auch stand:
die Erinnerung verändert sich, und zwar aus finalen Gründen:
sie hat nämlich einen Zweck: Material z.B. für eine Konfliktsituation hochzuschieben.
Man speichere also die Erinnerungen, um Material zu haben für akute Fragen.
So ähnlich verstehe ich es auch. Warum beschränkt der Autor das auf akute Fragen? Ich meine, es hilft in JEDER Lebenslage, Entscheidungen auf Grund von Erinnerungen zu treffen.
Ich habe den Artikel vor 10 Jahren gelesen, also ihn nicht frisch hier vorgetragen.
Das Wichtigste an dem Artikel war für mich, dass die Erinnerung sich ständig verändert, damit man immer neues Material hat für akute Situationen.
Ich find das witzig, dass auch die Erinnerung kreativ mitdenkt.

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Und weil der Mensch sich in seinen Fragen verändere - so die Zeitschrift -, verändert sich auch der Film.
So sehr nun auch wieder nicht.
Ich vermute eher, dass du (und alle anderen) mindestens seit der Pubertät dasselbe ICH-Gefühl hast.
Ich mit Sicherheit nicht.
Und meine Lebensfragen sind heute gänzlich andere als noch vor dreißig Jahren.
Eine Grundposition bleibt, das schon. Das Bedürfnis, zum Kern durchzudringen, ist gleichgeblieben.
Aber mene Erinnerungen sind, da hat die Zeitschrift Recht, angepasst an das, was ich gerade brauche. Wenn ich irgendwo nicht weiter weiß, wird mir ein passender Erinnerungsfetzen hochgeaschleudert. :D


Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Wenn das Weltbild dazu dient, mit akuten Fragen klarzukommen, dann schiebt der Erinnerungskanal Material hoch, das sich klammheimlich inzwischen verändert hat, also vergilbtes und unbrauchbares Material quasi durch neueres und sinnvolleres Material ersetzt hat.
Die Erinnerung arbeitet also konstruktiv mit. :D
Wenn sich die Erinnerung zu stark verändert, können Illusionen entstehen, anstatt "nur" Erinnerungen.
Erinnerungen sind trügerisch, auf jeden Fall. Ihr Sinn scheint ja nicht zu sein, etwas wie ein Geschichtsarchiv zu sein, sondern das zu bieten, was auf Abruf dem akuten Ich zugespielt wird.

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Auch sie ist lebendig und nicht statisch.
Ja. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Es verändern sich meistens nur die Details. Was ich damit sagen will, unser Langzeitspeicher ist gut geeignet "Filme" aus der Vergangenheit vorzuführen.
Ich will hier nur meine Beobachtungen darstellen - wenn das nicht in Ordnung ist, dann höre ich auf.
Allgemeine Aussagen, die ich nicht über viele Jahrzehnte überprüft habe, sind nicht mein Dingen.

Pluto
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#33 Re: Warum haben wir ein Weltbild?

Beitrag von Pluto » Do 12. Mai 2016, 16:59

Savonlinna hat geschrieben:Ich suche nach dem, wie die Psyche arbeitet: Was braucht sie als Auslöser, um Vergessenes bewusst zu machen?
Meiner Meinung nach, braucht das Gehirn Assoziationen. Dein Beispiel zeigt: Man begibt sich an einen früher vertrauten Ort, und die Erinnerungen dazu werden vom Gehirn "eingespielt". So auch die vermeintlich vergessene Autonummer.

Savonlinna hat geschrieben:Ich versuche mich heranzutasten, indem ich Beobachtungen sammele.
Ich versuche ebenfalls meine Ideen einfließen zu lassen.
Savonlinna hat geschrieben:Wenn Du für dieses Forum erwartest, dass ich fertige Theorien bringen muss, aber kein "work in progress" - also lautes Denken, oder gemeinsames Denken - , dann komme ich in vierzig Jahren wieder.
Lautes, gemeinsames Denken wird erwartet; mehr nicht. Wenn daraus eine Hypothese entsteht, wie es tatsächlich sein könnte, umso besser.

Savonlinna hat geschrieben:Das Wichtigste an dem Artikel war für mich, dass die Erinnerung sich ständig verändert, damit man immer neues Material hat für akute Situationen.
Ich find das witzig, dass auch die Erinnerung kreativ mitdenkt.
Ich sehe Erinnerungen als das "Rohmaterial" für aktuelle Planung und anfallende Entscheidungen.
So wie... "Wie war das letztes Mal? Wie habe ich entschieden? Wie hilft mir das jetzt?

Savonlinna hat geschrieben:Und meine Lebensfragen sind heute gänzlich andere als noch vor dreißig Jahren.
Eine Grundposition bleibt, das schon. Das Bedürfnis, zum Kern durchzudringen, ist gleichgeblieben.
Das meinte ich. Im Detail kommen ständig neue Erfahrungen hinzu, aber der Kern des "ICH", bleibt. Ich bin noch immer der "neugierige kleine Junge" von damals.

Savonlinna hat geschrieben:Wenn ich irgendwo nicht weiter weiß, wird mir ein passender Erinnerungsfetzen hochgeschleudert. :D
Genau! Du beschreibst das assoziative Gedächtnis bei der Arbeit.

Savonlinna hat geschrieben:Erinnerungen sind trügerisch, auf jeden Fall. Ihr Sinn scheint ja nicht zu sein, etwas wie ein Geschichtsarchiv zu sein, sondern das zu bieten, was auf Abruf dem akuten Ich zugespielt wird.
Ja. Aber es muss aber für die aktuelle Fragestellung relevant sein.

Savonlinna hat geschrieben:Ich will hier nur meine Beobachtungen darstellen - wenn das nicht in Ordnung ist, dann höre ich auf.
Wieso soll das nicht in Ordnung sein? :o

Der "Film" unserer Erinnerung IST unsere Erfahrung. So erfahren wir schon sehr früh, dass eine heiße Herdplatte Schmerzen verursacht. Sehen wir eine heiße Platte, gehen wir vorsichtig an sie ran. Das bewirkt die Erinnerung an "damals" als wir es gelernt haben.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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