Ken Wilber: Plädoyer fuer eine zweite Aufklärung

Philosophisches zum Nachdenken
ThomasM
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#21 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von ThomasM » Mo 12. Jan 2015, 12:54

Hallo closs
closs hat geschrieben: Indem man begreift, dass die Aufklärung nur dann Aufklärung ist, wenn sie ihre Grenzen erkennt. - Dann versteht sie nämlich auch den Satz: "Ein Mythos ist, was niemals war und immer ist."

Aus meiner aufgeklärten Sicht des Begriffs "Aufklärung" gehört das Christentum zu den aufgeklärtesten Phänomenen, die mir bekannt sind. - Gleichzeitig ist mir bewusst, dass das heutige reduktive Verständnis von "Aufklärung" das nicht verstehen kann. - Die heutige Aufklärung hat wahrscheinlich nicht erkannt, dass die (aus meiner Sicht: echte) Aufklärung des 17./18. Jh. holistisch angelegt war, während sie heute reduktiv angelegt ist - ein Paradigmenwechsel par excellence, bei dem trotzdem das Wort "Aufklärung" beibehalten wurde - eine dieser beliebten Strategien, bei gleicher Hülle ganz andere Inhalte zu installieren.
Also, dass, was ihr Geisteswissenschaftler bislang hier geschrieben habt, war schwach, sehr schwach.
Ich fordere ja nicht gleich einen empirischen Nachweis für geisteswissenschaftliche Begriffe, wie das Pluto immer tut, aber eine klare Sprache und ein Weiterdenken würde ich schon erwarten.

Aussagen wie:
- Es gibt nur individuelle Wahrheit
- Aufklärung nur dann Aufklärung ist, wenn sie ihre Grenzen erkennt
-Die Aufklärung von demundem war holistisch, während sie heute reduktiv ist

sind doch Plattituden.
Wenn jede Wahrheit individuell ist (eine Aussage, die ein sehr alter Hut ist), dann verlieren wir den Zugriff auf die gemeinsame Wahrheit.
Wenn Aufklärung (was immer das ist) nur auf ihre Grenzen starrt, dann verliert sie jeglichen Inhalt.
Wenn wir uns auf Holismus konzentrieren, dann verlieren wir die Fähigkeit, etwas Spezielles zu sagen.

Zu allen euren Platituden habe ich immer auf den Lippen
Und? Kommt da jetzt noch etwas Substantielles?

Mein Gefühl ist hier, dass Wilber einen üblichen Trick der Geisteswissenschaft durchgeführt hat. Man nehme einen positiv besetzten Begriff (hier Aufklärung), man fülle ihn mit inhaltsleeren, nichtssagenden "Wohlfühldenken". Benutze die positive Besetzheit, um so zu tun, als hätte man etwas Bedeutendes erreicht.

Im Mittelalter (und auch im Christentum) war die Inhaltsleere der geisteswissenschaftlichen Aussagen ein Problem. Das hat man damit gelöst, dass man sich an gewisse Autoritäten gehalten hat (Aristoteles, Ptolemäus, Päpste usw.) Diese bestimmten den eigentlichen Inhalt (meist vollkommen willkürlich). Es galt also die Devise: Du sagst etwas Richtiges, wenn du es mit einem anerkannten Autoritäten verbinden kannst.
Die Aufklärung hat diese Diktatur der Autoritäten abgeschafft und den Nachweis durch die Natur dafür eingesetzt.

Ja, das war eine Reduktion, aber es war eine notwendige Reduktion, über die Fortschritt möglich wurde, wo vorher nur Stagnation herrschte.

Gruß
Thomas
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

Novas
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#22 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von Novas » Mo 12. Jan 2015, 22:51

ThomasM hat geschrieben:Wenn wir uns auf Holismus konzentrieren, dann verlieren wir die Fähigkeit, etwas Spezielles zu sagen.
Weshalb sollte das der Fall sein? Eine wirklich holistische Denkweise wird immer den Anspruch haben, beides zu integrieren.

Und? Kommt da jetzt noch etwas Substantielles?
Wenn Gesprächspartner nur "dagegen" sind, dann wird das schwierig. Das integrale Modell ist extrem komplex und man muss wenigstens den Versuch des Verstehens wagen.
Zuletzt geändert von Novas am Mo 12. Jan 2015, 23:01, insgesamt 3-mal geändert.

Pluto
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#23 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von Pluto » Mo 12. Jan 2015, 22:55

Novalis hat geschrieben:Eine wirklich holistische Denkweise wird immer den Anspruch haben, beides zu integrieren.
Verliert nicht eine holitische Sichtweise den Blick für die innere Struktur der Einzelelemente?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Novas
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#24 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von Novas » Mo 12. Jan 2015, 23:19

Pluto hat geschrieben:Verliert nicht eine holitische Sichtweise den Blick für die innere Struktur der Einzelelemente?
Was hindert uns daran den Fokus auf Einzelphänomene zu richten, um nachher wieder das Ganze zu betrachten? Wilber unterscheidet jedenfalls vier grundlegende Wahrnehmungsbereiche.

Bild
"Erstmals präsentiert und erläutert hat Ken Wilber das Modell der vier Quadranten in seinem 1995 erschienenen Buch Eros, Kosmos, Logos (S. 160)

Die vier Quadranten sind seit ihrer Veröffentlichung zu einem der bekannsten integralen "Instrumente" geworden, und werden von immer mehr Menschen dazu verwendet, Themen unterschiedlichster Art (Medizin, Psychologie, Spiritualität, Ökologie, Wissenschaft, Kunst ...) aus vier grundlegenden Perspektiven als ein Ereignis oder Thema mit (mindestens) vier unterschiedlichen Dimensionen oder Aspekten zu betrachten.

Die Quadranten als Perspektiven und Wahrnehmungsbereiche öffnen uns für die Daseinsbereiche von innerlich/äußerlich und individuell/kollektiv.
"
http://integralesleben.org/home/il-inte ... uadranten/

Wir können also vier grundsätzliche Perspektiven und Wahrnehmungsbereiche unterscheiden, die wir sowohl vereinzelt, als auch ganzheitlich in ihrem Zusammenspiel betrachten können. Der menschliche Geist kann diese Bereiche gedanklich voneinander isolieren, aber eigentlich wirken alle Bereiche aufeinander ein.

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#25 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von Pluto » Di 13. Jan 2015, 00:08

Novalis hat geschrieben:Die Quadranten als Perspektiven und Wahrnehmungsbereiche öffnen uns für die Daseinsbereiche von innerlich/äußerlich und individuell/kollektiv.[/i]"
http://integralesleben.org/home/il-inte ... uadranten/
Ich habe das auf der Webseite gebrachte Beispiel verstanden, aber ich stehe immer noch "auf dem Schlauch" wie uns das Quadranten-Modell helfen kann, eine "zweite Aufklärung" zu finden.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

barbara
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#26 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von barbara » Di 13. Jan 2015, 07:16

Pluto hat geschrieben:Ich habe das auf der Webseite gebrachte Beispiel verstanden, aber ich stehe immer noch "auf dem Schlauch" wie uns das Quadranten-Modell helfen kann, eine "zweite Aufklärung" zu finden.

Durch Integration der subjektiven Perspektiven (Ich-Perspektive, Wir-Perspektive - hierzu gehören Kunst, Kultur im "wir" und die persönliche Wahrnehmung und Positon im "ich") mit der objektiven Perspektive (Es-Perspektive - hierzu gehört Naturwissenschaft) zu einer umfassenden Einheit.

Dieser Schritt ist notwendig für jeden, der das Qualia-Problem lösen will. Oder für jeden, der einen bewussten Roboter bauen will.

gruss, barbara

michaelit
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#27 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von michaelit » Di 13. Jan 2015, 08:52

Mehr Aufklärung würde uns gut tun. Dazu müßte aber erst einmal noch Vorarbeit geleistet werden.

Was mich etwa interessieren würde wäre eine "stuffed bible". Normalerweise nehmen die Leute ja den Bibeltext wie er dasteht. Aber mit etwas Fantasie kann man die Dialoge in der Bibel noch ergänzen so daß manchmal ein viel einfacheres Verständnis möglich wird.

Es gibt ja etwa die Verse in der Bibel in der Jesus die Sünde gegen den Heiligen Geist so beschreibt daß diese nicht vergeben werden kann. Ich denke aber daß diese Passage so wie sie dort steht in der Realität ganz anders ablief. Jesus machte einen Menschen gesund der einen verworrenen Geist hatte. Er tat dies mit Liebe und indem er Erleuchtung über die Freiheit in Gott zu dem "Besessenen" brachte. Dann kamen Pharisäer die Jesus seinen Erfolg neideten und meinten Jesus hätte das durch Oberdämonen bewirkt. Da meinte Jesus nein, ich machte das mit Liebe und Heiligem Geist, und es ist schlimm daß ihr das für widerum dämonisch haltet. Da sagten sie zu Jesus, wir wollen dafür keine Vergebung, wir wollen daß du uns auch liebst. Und Jesus wußte nicht mehr was er sagen sollte.

So etwa denke ich mir die Geschichte dieser Verse. Wenn man sie aber so nimmt wie sie in der Bibel stehen, dann kann man viel Angst bekommen, ich habe da schon oft davon gelesen in christlichen Foren daß manche Menschen eine ganz große Angst kriegten daß sie dafür in der Hölle landen - für ein dummes Wort über Gott.

Für mich hat das damit zu tun daß man in christlichen Kreisen die Bibel immer noch leicht als unfehlbar sieht, irrtumslos, von vorn bis hinten wahr. Das ist aber nicht so, und genau durch diese Herangehensweise verkennt man die Bibelgeschichten als Gottaussage und sieht sie nicht mehr als Dokument der Gottessuche.

ThomasM
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#28 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von ThomasM » Di 13. Jan 2015, 09:48

Hallo Barbara
barbara hat geschrieben: Durch Integration der subjektiven Perspektiven (Ich-Perspektive, Wir-Perspektive - hierzu gehören Kunst, Kultur im "wir" und die persönliche Wahrnehmung und Positon im "ich") mit der objektiven Perspektive (Es-Perspektive - hierzu gehört Naturwissenschaft) zu einer umfassenden Einheit.
Schon wieder so eine Pauschalaussage, die sich klasse anhört, aber nichts sagt. Wie willst du denn so etwas machen?

So ist mein Sohn auf die Idee gekommen, Germanistik zu studieren, weil er in der Oberstufe einen Lehrer hatte, der meinte "Wir konzentrieren uns jetzt auf die Frage, was der Text MIR sagt".
Also der Rückzug auf die individuelle Sichtweise.
Ich (als Naturwissenschaftler) hätte Fragen erwartet wie "Was wollte der Autor sagen?" (kann man nicht mehr beantworten, wenn der Autor tot ist) oder "was sagt der Autor?" (absolute Frageweise, die objektive Kriterien zur Beantwortung erfordert. Aber siehe da: es gibt keine objektiven Kriterien).

Dieser Rückzug auf das "Ich" sehe ich typisch für die Geisteswissenschaften, weil bislang jeder Versuch einer Objektivierung gescheitert ist.

In der Naturwissenschaft ist es umgekehrt. Die Aufklärung hat dort den Rückzug auf die einzige objektive Instanz ergeben, die es gibt: das Experiment. Daher auch Plutos stetig wiederkehrende Forderung nach empirischen Nachweisen. Ohne diese objektive Instanz ist die Naturwissenschaft tot, hört die Naturwissenschaft auf, Naturwissenschaft zu sein.

Nicht, dass es nicht an Versuchen fehlt, aus diesem Zwang zur Empirie herauszutreten, aber die Ergebnisse sind Dinge wie Seeadlers Träume oder z.B. die Notation, dass "das Gravitationsgesetz lediglich eine gesellschaftliche Vereinbarung ist" (wird und wurde ernsthaft vertreten).

Du kannst Naturwissenschaft durch individuelle Sichten ergänzen, aber dann hast du keine Naturwissenschaft mehr, mit allen Vorteilen (Vordringen in individuell relevante Erkenntnisbereiche), aber auch den Nachteilen (Fähigkeit zur Vorhersage und technischen Ausnutzung geht verloren, Objektivität geht verloren).

Wenn du zwei unvereinbar nebeneinander stehende Dinge hast, dann hast du keine Einheit. Dein Spruch zur Einheit ist leer.

Gruß
Thomas
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#29 Re: Ken Wilber: Plaedoyer fuer eine zweite Aufklärung

Beitrag von Novas » Di 13. Jan 2015, 10:14

ThomasM hat geschrieben: Schon wieder so eine Pauschalaussage, die sich klasse anhört, aber nichts sagt. Wie willst du denn so etwas machen?
... durch eine Transformation des Bewusstseins.

michaelit
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#30 man muß aber reden können

Beitrag von michaelit » Di 13. Jan 2015, 10:19

Hallo Thomas,

du beschreibst die Sache schon richtig, aber meiner Ansicht nach fehlt einfach der Hinweis auf das Gespräch, und daß man im Gespräch Naturwissenschaft und Metaphysik schon in Einklang bringen kann. Haben ja nicht nur einfache Christen gemacht sondern auch sehr wissenschaftlich gebildete Menschen wie Leibniz mit seinen Monaden. Gott ist empirisch nicht klar zu finden, die Natur beugt sich dem Experiment während Gott elusiv bleibt und anders handelt als der Mensch. Man kann aber mit Glauben und bestimmten theologischen Ideen zu Kompromissen kommen und einige sehr schöne und auch einleuchtende Ideen finden. Im Glauben kann man nämlich auch zu einer Art Empirie kommen, nur ist diese nicht jedem Menschen vermittelbar weil man für dieses Experiment dann doch erst den Glauben braucht, man muß erst suchen, sich spirituell verhalten, einen Sinn für das metaphysische finden, eine Tür dorthin. Wenn man aber erst einmal dort ist findet man im Lauf der Zeit Bruchstück um Bruchstück und kann für sich den Kosmos dann doch besser erklären als es die Naturwissenschaft vermag. Da kommt auch heraus daß Naturwissenschaft damit zu tun hat daß man sich die Natur dienstbar machen will. Aber Gott kann man sich nicht so dienstbar machen, es hilft viel aber im Grunde geht es um Beziehung, um eine Hochstellung von Dialog der auch Gebet ist. Man muß ganz anders denken, man muß auch einmal einer Vorstellung folgen, bestimmte Scheuklappen wegtun. Ich sehe die Sache ähnlich wie du daß ich Gott bzw auch den Geist in den Naturwissenschaften nicht experimentell ermitteln kann, aber es bleibt doch trotzdem so daß man darüber reden kann, daß auch in der Metaphysik Sinn und Logik gelten. Und daß Metaphysik in ihrer manchmal schwierigen Vermittelbarkeit dann doch kein Unsinn ist sondern den Menschen erleuchten kann. Denn immer wieder stellt sich die Frage, was bedeutet diese oder jene Erkenntnis für mich persönlich. Was bedeutet es etwa für mich daß der Mensch sein genetisches Programm mit allen Tieren und anderen Lebewesen teilt? Davon konnten die ersten religiösen Metaphysiker noch nicht ausgehen. Ich würde versuchen die Naturwissenschaft nicht gegen die Metaphysik auszuspielen und metaphysische Gedanken nicht aus den Diskussionen herauszuschupsen nur weil manche Menschen sie nicht verstehen wollen. Zur Bildung gehört auch etwas metaphysische Bildung.

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