Die Zerstörung der antiken Buchkultur

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Demian
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#1 Die Zerstörung der antiken Buchkultur

Beitrag von Demian » Mo 23. Dez 2013, 01:04

Was haltet ihr davon?

Die Zerstörung der antiken Buchkultur: durch das Christentum

"Henri-Irenee Marrou hat das letzte Kapitel seiner großen „Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum” dem Verhältnis des Christentums zur klassischen Bildung gewidmet. Sein Fazit: Das Christentum duldete das römische Schulsystem notgedrungen, mehr nicht. Die Buchreligion Christentum hatte kein eigenständiges Interesse an der allgemeinen literalen Bildung, wie sie im klassischen Rom verbreitet war. Marrou nennt das Phänomen „Kulturosmose": Die kulturelle Umwelt der griechisch-römischen Bildung war so dominant, dass sie die christliche Glaubenskultur durchdrang – auch wenn die christlichen Autoritäten sich dagegen zu wehren versuchten. „Eben weil sie in der klassischen Welt lebten, haben die Christen der ersten Jahrhunderte den Grundbegriff des hellenistischen Humanismus als ‚natürlich’ und sich von selbst verstehend angenommen.“

Vor allem die gnostische Bewegung zeigt, wie ansteckend die antike Bildung wirken konnte – gebildete Christen versuchten, eine christliche Philosophie auf der Höhe der „heidnischen“ zu denken. Die Kirche hatte „alle Mühe, jene theologische Wut zu bändigen, in der sich die Bildungsbedürfnisse der Zeit austoben und in der die schlimmsten Überlieferungen aus dem Erbe des hellenistischen Humanismus Anwendung finden: die Streitsucht des Philosophen und der Wortschwall des Redners.“ (Marrou 473) Und die Kirche bekämpfte die Gnostiker mit allen Mitteln. Aber die antike humanistische Philosophie wurde von den Christen als „Nebenbuhlerin“ verstanden und bekämpft - weil sie für die menschlichen Lebensfragen Lösungen anbot und „für die Gebildeten geradezu der Ersatz für eine wirkliche Religion“ (Marrou) war. Auch die Gebildeten unter den Kirchenvätern verdammten die antike Bildung als Gegenstück zur christlichen Offenbarung. Die Bekehrung zum Christentum war für gebildete Menschen mit dem ausdrücklichen Verzicht und der Distanzierung von der antiken Bildungstradition verbunden.

...

Augustinus gilt als der letzte Philosoph der Antike, bei ihm vollendet sich die theologisch motivierte Vernichtung der antiken Vernunft-orientierten Philosophie. Es gehörte zum guten Ton, dass griechisch Gebildete, die zum Christentum übertraten, ihre „heidnischen“ Bücher verbrannten. In der Apostelgeschichte ist das Muster der Bücherverbrennung niedergelegt: In Ephesus hatten die Erfolge des Paulus viele Zauberer so tief beeindruckt, dass sie ihre magischen Schriften herbeibrachten und sie vor den Augen aller ins Feuer warfen. Der Wert dieser Bücher sei auf 50.000 Denare geschätzt worden, heißt es da. Die Botschaft: Wer den christlichen Glauben annahm, musste sich von seiner unheiligen Vergangenheit lösen, indem er geistig und materiell die Grundlagen seines früheren Lebens tilgt.
Der römische Kaiser Julian Apostata, „der Ungläubige”, hat sich lustig gemacht über den Anspruch der christlichen Theologie und versucht, die alte kommunikative Ideologie für das römische Imperium wiederherzustellen. Er versuchte, den Einfluss des Christentums zurückzudrängen und den alten römischen Götterkult als Gegen-Kirche zu institutionalisieren. Er lehnte gleichzeitig die Sakralisierung des Kaisertums ab und führte den umstandslosen Stil eines civilis princeps wieder ein. Nach nur drei Jahren im Amt (360-363) kam kam Kaiser Julian er bei einem Feldzug ums Leben.
Vergeblich hatte sich der renommierte und griechisch gebildete Redner Symmachus in einer Bittschrift (384) an den Kaiser für Toleranz eingesetzt: „Beste Herrscher, Väter des Vaterlandes, habt Ehrfurcht vor meinem Alter, in das mich die fromme Pflichterfüllung gelangen ließ! Lasst mich bei den vorväterlichen Bräuchen bleiben, denn ich bereue sie nicht. Lasst mich nach meiner eigenen Art leben, weil ich frei bin” und: „Warum ist es von so großer Bedeutung, mit welcher Denkweise ein jeder die Wahrheit sucht. Auf einem Weg allein kann man nicht ein solch erhabenes Mysterium erkennen." Ambrosius, der Erzbischof von Mailand und bedeutende Kirchenlehrers, begründete dagegen die christliche Intoleranz und setzte sich machtpolitisch damit durch: „Die Erlösung wird nur gewährleistet sein können, wenn ein jeder wahrhaft den wahren Gott verehrt, das ist den Gott der Christen ... Er allein ist der wahre Gott, der in der Tiefe des Verstandes zu verehren ist; denn ‚die Götter der Heiden sind Dämonen‘, wie die Heilige Schrift sagt.“ Ein prominentes Beispiel für die fanatische Zerstörungswut von überzeugten Christen ist die Ermordung der Wissenschaftlerin und Philosophin Hypatia durch den christlichen Mob in Alexandria im Jahre 415.


Der Historiker Peter Brown fasst zusammen: „Der enorme Widerhall, den spektakuläre Gewaltaktionen gegen heidnische Tempel und jüdische Synagogen in weiten Bevölkerungskreisen fanden, illustriert den Sachverhalt am sinnfälligsten. Unübersehbar wird in allen christlichen Quellen zur Regierungszeit Theodosius’ I. in den Jahren 379 bis 395 davon berichtet. Hasserfüllter, organisierter Terror gegen heidnische Kultstätten war damals weit verbreitet. Man schlug Hände und Füße heidnischer Statuen ab, Gesicht und Genitalien wurden verstümmelt, sakrosankte Bezirke durch Feuer ‘gereinigt’.“

...

Nachfolger war Kaiser Justinian I., in dessen Zeit die Zerstörung der Antike vollendet wurde. Justinian regierte von 527 bis 565, er gilt in der Geschichtswissenschaft als einer der bedeutendsten Herrscher der Antike und wird von der orthodoxen christliche Kirche bis heute als Heiliger verehrt. 529 ließ Justinian die platonische Akademie in Athen schließen, in der er einen Hort paganer neuplatonischer Philosophie sah. Der Isis-Tempel von Philae in Ägypten wurde um 536 durch kaiserliche Truppen geschlossen - das letzte geduldete nichtchristliche Heiligtum im Imperium. Justinian ordnete 545/6 die Verfolgung nichtchristlicher Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen an und ließ im Jahre 562 heidnische Bücher öffentlich verbrennen. Unter dem Vorwurf des Heidentums wurden Angehörige der klassisch gebildeten Oberschicht verfolgt.
Die Kindstaufe wurde zwangseingeführt, die Nichtbeachtung mit dem Verlust von Eigentum und Bürgerrecht bestraft, das Festhalten am „hellenischen“ Glauben bzw. die Apostasie nach der Taufe mit der Todesstrafe. (Codex Iustinianus). Im Januar 543 erließ Justinian einen Erlass gegen neun Lehrsätze von Origenes (185–254) veröffentlichen. Der angeblich von Justinian selbst verfasste Hymnus, „O einzig-gezeugter Sohn und Wort Gottes“ gehört bis heute zur Liturgie der orthodoxen Kirche.
" Quelle

2Lena
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#2 Re: Die Zerstörung der antiken Buchkultur

Beitrag von 2Lena » Mo 23. Dez 2013, 09:51

Demian - was du so alles findest!

Zitat Marrou: Die Buchreligion Christentum hatte kein eigenständiges Interesse an der allgemeinen literalen Bildung, wie sie im klassischen Rom verbreitet war.

a) Heutige Zeugen wie Marrou sehen den Spalt zwischen widersprüchliches Bibeldenken "Christentum" und antiker Bildung.

b) Damalige Zeugen schufen aus der antiken Bildung der Bibel die antike Philsophie, die Dogmen, die Liebeslehre des Christentums, Grundlagen der Staatsgesetze.

Ein Buch - zwei Leseweisen!

Zitat Marrou: Aber die antike humanistische Philosophie wurde von den Christen als „Nebenbuhlerin“ verstanden und bekämpft

Nein, das Christentum (NT-Lehren) war weit BESSER als griechische Streitkultur. Es enthielt die Liebeslehre und logische Konzepte zur Problemlösung. Das kam bei den Naturphilosophen nicht vor. Die stritten sich noch. (Streiten sich bis heute alle Fachwissenschaften, weil sie die NT-Grundlagen nicht haben.)

Zitat Marrou: Die Bekehrung zum Christentum war für gebildete Menschen mit dem ausdrücklichen Verzicht und der Distanzierung von der antiken Bildungstradition verbunden.

Falsch! Würde etwa einer von uns auf seine Bildung verzichten?
Statt dem soliden Einmaleins machen wir mal kurz ein Durcheinander - wie wär's. Kein vernünftig denkender Mensch würde die Grundrechenarten aufgeben - es sei denn, es ist etwas durchschlagend Besseres da.

Genau wie Marrou die damaligen Zeitzeugen nicht versteht, so kann er auch die Worte Ambrosius nicht verstehen:
Ambrosius: „Die Erlösung wird nur gewährleistet sein können, wenn ein jeder wahrhaft den wahren Gott verehrt, das ist den Gott der Christen ... Er allein ist der wahre Gott, der in der Tiefe des Verstandes zu verehren ist;

Wie meinte er das wohl? Er verwendete den "AT-Jargon" Ambrosius hat den "Eingottglauben" der Trinität voll und ganz verstanden. Was er sagt, versteht man aber ohne die Auslegung des AT nicht. Ich verstehe Ambrosius Ausdruck, hätte das nach damaliger Sprache so gesagt. Aber wie ich die "Summe" heute sagen soll, dass sie alle Denkrichtungen überwindet, das weiß ich eben auch noch nicht. Guter Rat ist teuer - und kostet viel Arbeit.

Historiker Peter B.: Man schlug Hände und Füße heidnischer Statuen ab, Gesicht und Genitalien wurden verstümmelt, sakrosankte Bezirke durch Feuer ‘gereinigt’.“

Wenn nach und nach herauskommt, wie verkehrt das (bisher ach so gute) Christentum ist - randalieren wir aber nicht so, sondern wir investieren die Wut oder die nun entstehende überschüssige Kraft in gute Lösungen ... hoffentlich, gell ...

Danke Demian für den gut diskutierbaren Abschnitt.
Marrou hat gut analysiert, aber sich halt nicht die Arbeit gemacht die "Quellen" anzuschauen.

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