Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Philosophisches zum Nachdenken
Novas
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#1 Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Novas » Mi 21. Jan 2015, 21:57

Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität und eine spirituelle Wissenschaft
Michael Habecker

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"Neben den großen Segnungen die uns die Moderne gebracht hat, wie die Menschenrechte, die Frauenbewegung und gewaltige technologische Fortschritte, gab es auch Fehlentwicklungen die wir zu korrigieren haben, wenn wir die Menschheitskrisen des 21ten Jahrhunderts bewältigen wollen. War die Aufklärung zu ihrem Beginn etwa um 1500 noch eine Bewegung, die Wissenschaftlichkeit, Emanzipation und Bewusstheit in alle Lebens- und Seinsbereiche bringen wollte, konzentrierte sich sie Aufmerksamkeit mit der Zeit zunehmend auf die naturwissenschaftliche Außenseite der Manifestation, und die Erforschung des Geistes oder der Innerlichkeit trat mehr und mehr in den Hintergrund, oder galt sogar als unwissenschaftlich[1].

Dies hat zur Konsequenz, dass in der Öffentlichkeit nur das als wirklich und real gilt, was äußerlich erkennbar und durch Messung beschreibbar ist, wohingegen der Bereich von Innerlichkeit irgendwo zwischen exotisch und esoterisch angesiedelt ist, aller geisteswissenschaftlichen Tradition zum Trotz. Wissenschaft wird heute vielfach gleichgesetzt mit Naturwissenschaft. Dies ist eine „moderne Katastrophe“, eine Einschränkung, die denjenigen, die den Menschen und die Welt wissenschaftlich verstehen wollen, lediglich das Äußerliche und quantitative zur Verfügung stellt.

Doch die Zukunft der Menschheit hängt nicht nur von unserem naturwissenschaftlichen Verstehen der Welt und des Menschen, sondern noch mehr vom geistigen Verstehen beider ab, von Intentionen, Hoffnungen, Ängsten und individueller und kollektiver innerlichen Entwicklung, um nur ein paar wenige Aspekte des „Weltinnenraums“[2] der Schöpfung zu beschreiben."

Quelle: http://integralesleben.org/if-home/if-i ... tualitaet/

...

Ausgehend von vier vermuteten Grunddimensionen aller Manifestation, dem Innerlichen und Äußerlichen, und dem Individuellen und Kollektiven, lassen sich vier voneinander unterschiedene, wenn auch miteinander zusammenhängende Daseinsbereiche differenzieren, die von Wilber so genannten „Vier Quadranten“:

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Der Einfachheit halber kürzen wir die Quadranten wie folgt ab: OL = oben links, OR = oben rechts, UL = unten links, UR = oben rechts. Jeder Augenblick hat (mindestens) diese vier Aspekte, einen (bezogen auf einen Menschen)

*subjektiv innerlichen Aspekt als das, was ein Mensch in sich erlebt,
*einen kollektiv innerlichen Aspekt als das, was Menschen in Beziehung zueinander erleben,
*einen individuell äußerlichen Aspekt als die Physiologie und das Verhalten eines Menschen, und
*objektiv kollektiv äußerliche Aspekte als das systemische Eingebundensein dieses Menschen in Umwelt und Systeme.

Jeder dieser Bereiche kann für sich erforscht, entdeckt und weiter entwickelt werden.

[...]
Zuletzt geändert von Novas am Mi 21. Jan 2015, 22:07, insgesamt 2-mal geändert.

Novas
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#2 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Novas » Mi 21. Jan 2015, 22:06

Dimensionen von Erkenntnis
"Wir erkennen die großen Gruppen der Naturwissenschaften (OR und UR) und der Geisteswissenschaften (OL und UL), und sehen dass sie jeweils die Außen- und die Innenseite einer Wirklichkeit beschreiben. Weiterhin erkennen wir die wichtige Unterscheidung zwischen der Erkennung von Einzelnem, wo ein (inneres oder äußeres) Erkenntnisobjekt im Vordergrund steht (OL, OR), und der Betrachtung von Gemeinschaften und Systemen, bei der das Verstehen einer Gesamtheit im Vordergrund steht, die Kultur- und Systemwissenschaften (UL, UR). Die linksseitigen Quadranten betrachten die Welt von innen her, die Naturwissenschaften von außen her.

Wenn diese Unterscheidung von Wilber nicht erfunden, sondern gefunden wurde, dann können wir erwarten dass die Erkenntnistraditionen der Menschheit hierzu schon von Anfang an Beiträge geliefert haben, und so ist es auch."


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Abb.2: Beispiele von Wissenschaft und Untersuchungsmethodik in den vier Quadranten


"Im oberen linken Quadranten finden wir die Untersuchungen der Innerlichkeit von Menschen (und aller empfindenden Wesen), wie sie beim Menschen beispielsweise durch Meditation und (Entwicklungs)Psychologie vorangetrieben wird mit der Frage: „Was ist ein Ich?“ Im unteren linken Quadranten lautet die Fragestellung „Was ist ein Wir?“, was ist Gemeinschaft, Intersubjektivität und gegenseitige Verstehen, und wie entwickelt diese sich?, und eine der Möglichkeiten dieser Frage nachzugehen ist die Wissenschaft der Hermeneutik. Im oberen rechten Quadranten geht es darum zu verstehen was ein „Es“ ist, und hier finden wir den Untersuchungsbereich der Naturwissenschaften wie Physik, Chemie und Biologie[4]. Im unteren rechten Quadranten schließlich werden nicht Einzeldinge betrachtet und untersucht sondern Systeme, als die Außenseite des Kollektiven[5].

Konkret bezogen auf die Spiritualität können wir sagen: Im OL finden wir die Phänomenologie, den Strukturalismus, und die Psychodynamik der Spiritualität. Die Phänomenologie liefert uns die Fülle aller Bewusstseinsphänomene, die Menschen als spirituell (oder auch religiös) bezeichnen. Hier können wir auf ein einen großen Erfahrungsschatz der Traditionen zurückgreifen, und eigene phänomenologische Untersuchungen anstellen. Der Strukturalismus betrachtet demgegenüber nicht die Phänomene, sondern die Strukturen des Bewusstseins, insbesondere in ihrer Entwicklung (Entwicklungspsychologie). Für die Spiritualität bedeutet dies die Aufdeckung der Interpretationsstrukturen, mit denen spirituelle Erfahrungen interpretiert und kommuniziert werden. Ein anderer Ausdruck dafür wären die Glaubenssätze, Verstehensmuster, Charakterstrukturen oder der „mindset“ von spirituellen Menschen, um den es hier geht. Die Psychodynamik schließlich trägt der Tatsache Rechnung, dass die Bewusstseinsphänomene und die sie tragenden Bewusstseinstrukturen in einer lebendigen Dynamik miteinander stehen, und dass es eine Vielzahl von Mechanismen[6] gibt, die, auch bei spirituelle Menschen, einen enormen Einfluss darauf ausüben, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen. Zur Bewusstwerdung in diesem Bereich tragen Disziplinen wie die Psychoanalyse bei. Aus den gesagten wird bereits deutlich, dass eine Praxis wie die Meditation alleine für die Bewusstwerdung im OL nicht ausreicht.

Analoges gilt für den UL Quadranten, wo wir es auch mit Bewusstseinsphänomenen, Bewusstseinsstrukturen und Psychodynamiken zu tun haben, nur jetzt bezogen auf eine Gemeinschaft von Menschen, als miteinander geteilte Erfahrungen.

Im OR Quadranten finden wir im Hinblick auf Spiritualität das Verhalten von Menschen und deren Physiologie, einschließlich dessen was man z. B. bei Meditierenden im Gehirn messen kann.

Im UR Quadrant schließlich erforschen wir die Organisationen und Systeme von Spiritualität, als äußerlich feststellbare Prozesse, Abläufe und Strukturen.

Spiritualität ist damit weit mehr als „nur“ eine Anzahl von erfahrenen und beschriebenen Bewusstseinsphänomenen. Durch die Quadrantenbetrachtung erstreckt sich Spiritualität, als eine integrale Spiritualität, auf die Totalität des gesamten Seins, und kann so in allen ihren Aspekten, innerlich wie äußerlich, individuell wie kollektiv, erforscht werden."

Pluto
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#3 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Pluto » Mi 21. Jan 2015, 22:43

Novalis hat geschrieben:
...und die Erforschung des Geistes oder der Innerlichkeit trat mehr und mehr in den Hintergrund, oder galt sogar als unwissenschaftlich.
Das stimmt so natürlich nicht.
Lange Zeit galt der Glaube an den von Descartes postulierten Dualismus von Seele und Körper. Erst als dieser "Hemmschuh" Mitte des vergangenen Jahrhunderts abgestreift wurde, konnte die Hirnforschung (nach etlichen Fehlstarts wie der Behaviorismus von B.F. Skinner) mit der Erforschung des Geistes sehr schnelle Fortschritte erzielen. Heute weiß man sehr viel mehr als noch vor 50 oder 60 Jahren, und es kommen beinahe täglich erstaunliche neue Erkenntnisse hinzu, die einen vom Körper unabhängigen Geist immer unwahrscheinlicher erscheinen lassen.

Geist wird heute in der Fachwelt für einen Prozess des Gehirns gehalten; ein Prozess der dem Körper dient. Das was Viele als "Innerlichkeit" empfinden erscheint immer mehr als Teil dieses Prozesses.

Ich, für meinen Teil, könnte mir nichts mehr wünschen als eine wirklich erkenntnisbasiertt Spiritualität. Doch die beobachtbaren und reproduzierbaren Erkenntnisse bleiben leider aus.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#4 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von closs » Mi 21. Jan 2015, 23:14

Pluto hat geschrieben:Geist wird heute in der Fachwelt für einen Prozess des Gehirns gehalten
Eigentlich sollte die wissenschaftliche Fachwelt lieber ein Wort wie "zerebrale Aktivitäten" oder sonstwas benutzen - denn bei Benutzung des Worte "Geist" haben wir wieder mal eine Doppelbesetzung - zwei Begriffe in EINEM Wort - das muss zu Missverständnissen führen.

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#5 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Pluto » Mi 21. Jan 2015, 23:22

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Geist wird heute in der Fachwelt für einen Prozess des Gehirns gehalten
Eigentlich sollte die wissenschaftliche Fachwelt lieber ein Wort wie "zerebrale Aktivitäten" oder sonstwas benutzen - denn bei Benutzung des Worte "Geist" haben wir wieder mal eine Doppelbesetzung - zwei Begriffe in EINEM Wort - das muss zu Missverständnissen führen.
Das ist eher eine semantische Spitfindigkeit. Ich glaube der Begriff Geist ist in diesem Zusammenhang genau richtig.
Kannst du mir erklären worin sich faktisch ein geistiger und ein zerebraler Prozess unterscheiden?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Novas
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#6 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Novas » Mi 21. Jan 2015, 23:26

Pluto hat geschrieben:Geist wird heute in der Fachwelt für einen Prozess des Gehirns gehalten; ein Prozess der dem Körper dient. Das was Viele als "Innerlichkeit" empfinden erscheint immer mehr als Teil dieses Prozesses.
Die spirituelle Perspektive ist, dass das Universum eine Funktion des Bewusstseins ist. Wie willst Du denn beweisen, dass Bewusstsein nur eine Funktion des Körpers ist, wenn wir nicht mal verstehen, was Bewusstsein ist?

Wir können es nicht objektivieren. Alan Watts hat einen mittleren Weg empfohlen: wir können sagen, dass das Universum Bewusstsein hervorbringt. Aber genauso können wir sagen, dass das Bewusstsein das Universum hervorgebracht hat. Weshalb sollte nicht beides gleichzeitig geschehen?

Ich weiß, dass ich in jedem Moment eine Erfahrung erlebe. In dieser Erfahrung erlebe ich mich, die körperliche Sinneswahrnehmung und die Welt.
Zuletzt geändert von Novas am Mi 21. Jan 2015, 23:33, insgesamt 1-mal geändert.

Pluto
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#7 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Pluto » Mi 21. Jan 2015, 23:31

Novalis hat geschrieben:Die spirituelle Perspektive ist, dass das Universum eine Funktion des Bewusstseins.
Das mag sein.
Unter Fachleuten (Hirnforscher) wirst du k(aum)einen der das so sieht.

Novalis hat geschrieben:Wie willst Du denn beweisen, dass Bewusstsein nur eine Funktion des Körpers ist, wenn wir nicht mal verstehen, was Bewusstsein ist?
Erstens sprach ich von Geist; Bewusstsein ist vermutlich ein Unterprozess des Geistes.
Zweitens, will ich nichts beweisen, sondern nur die Position (Meinung) der Fachwelt darlegen.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#8 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Novas » Mi 21. Jan 2015, 23:36

Pluto hat geschrieben:Das mag sein. Unter Fachleuten (Hirnforscher) wirst du k(aum)einen der das so sieht.
Was ist mit den "Fachleuten" der inneren Erfahrung, den Mystikern? Die bestreiten natürlich umgekehrt das materialistische Weltbild, weil für sie letztlich nur der Geist real ist. :lol:

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#9 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Pluto » Mi 21. Jan 2015, 23:40

Novalis hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Das mag sein. Unter Fachleuten (Hirnforscher) wirst du k(aum)einen der das so sieht.
Was ist mit den "Fachleuten" der inneren Erfahrung, den Mystikern? Die bestreiten natürlich umgekehrt das materialistische Weltbild, weil für sie letztlich nur der Geist real ist. :lol:
Natürlich bestreiten Mystiker das naturwissenschaftliche Weltbild. Die Frage ist, welche Möglichkeiten haben sie dies an Hand von Beobachtungen zu bestätigen?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#10 Re: Ein Plädoyer für eine erkenntnisbasierte Spiritualität

Beitrag von Novas » Mi 21. Jan 2015, 23:43

Pluto hat geschrieben:Natürlich bestreiten Mystiker das naturwissenschaftliche Weltbild. Die Frage ist, welche Möglichkeiten haben sie dies an Hand von Beobachtungen zu bestätigen?
Weshalb können beide Sichtweisen nicht einfach einander ergänzen oder wenigstens ko-existieren? Alle Überlegungen beruhen auf subjektiver Wahrnehmung. Ob wir mit Blick nach außen oder mit Blick nach innen die Realität betrachten, es ist alles Subjektivität. Für mich ergibt es mehr Sinn beides zu kombinieren ohne einen Bereich auf den anderen zu reduzieren.

Allerdings bin ich "Mystiker" (das wäre wohl eine passende Schublade für mich) und somit bei den Hardliner-Materialisten unten durch.
Zuletzt geändert von Novas am Mi 21. Jan 2015, 23:54, insgesamt 1-mal geändert.

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