closs hat geschrieben:Thaddäus hat geschrieben:Nicht auf das "Urwesen" selbst wird der Begriff der Vernunft übertragen, nur "auf das Verhältnis derselben zur Sinnenwelt", nur nach der Analogie (s. d.); wir denken uns die Welt so, "als ob sie von einer höchsten Vernunft... abstamme"
Das heißt dann doch:
Es gibt ein "Urwesen" (irgendwas muss "Archetypus" ja sein, wenn es gerade NICHT anthropozentrisch sein soll).
Kant würde sich nicht dazu hinreißen lassen, zu behaupten, es gäbe Gott. Denn das wäre ein existenzbejahendes Urteil, welches die menschliche Vernunft prinzipiell nicht treffen kann. Der Titel seines Hauptwerks
Kritik der reinen Vernunft soll genau das zum Ausdruck bringen: er kritisiert den Gebrauch "reiner Vernunft", die sich zu bloßen metaphysischen Spekulationen hinreißen lässt, ohne dass ein Rückgriff auf empirische Erkenntnisse überhaupt möglich ist, weil sie es nur noch mit reinen "Gedanken-Dingen" zu tun hat, die Kant "
Noumena" nennt. Der Begriff "Gott" (intellectus archetypus) ist für ihn tatsächlich nur die (transzendente bzw. regulative) Idee menschlicher Vernunft, die sich genötigt sieht anzunehmen, dass es eine einheitsstiftende "höhere" Vernunft als die menschliche geben muss.
Kant drückt diesen Sachverhalt so aus ...
Der unseren schwachen Begriffen angemessene Ausdruck wird sein: daß wir uns die Welt so denken, als ob sie von einer höchsten Vernunft ihrem Dasein und inneren Bestimmung nach abstamme, ... (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, § 59)
Kant setzt das
als ob in diesem Satz selbst fett, um anzuzeigen, dass die menschliche Vernunft immer nur so tun kann, "als ob" es einen intellectus archetypus, sprich: einen Gott, gäbe. Kant zeigt die Grenzen menschlicher Vernunft in seiner Erkenntnisteorie auf, ist aber der Ansicht, dass Metaphysik innerhalb gewisser strenger Grenzen dennoch möglich ist.
closs hat geschrieben:
Intellectus archetypus" ist nicht in seinem Urwesen gemeint, sondern in dem, was davon bei uns ankommt.
Einverstanden?
Nein, der Weg ist genau umgekehrt. Der menschlichen Vernunft drängen sich unabweisbar Fragen auf (nach Gott, nach der Freiheit, nach der Unsterblichkeit, nach den Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, nach dem intellectus archetypus usw.), die sie nicht fundiert beantworten kann. Sie bildet Begriffe, die keine Fundierung mehr in der Erfahrungswelt haben, und über die wir deshalb nicht fundiert urteilen können. Die Fragen selbst aber verweisen auf etwas, nämlich auf etwas "Unerkennbares". Dieses Unerkennbare können wir, wie die Dinge an sich, nicht näher bestimmen. Versucht man es doch, spekuliert man nur wild herum ohne eine feste und sichere Grundlage.
Das heißt: die menschliche Vernunft verweist auf etwas Unerkennbares (Gott/intellectus archetypus) als transzendente bzw. regulative Idee.
Das geht notwendig stets nur vom Menschen aus. Was göttliche Vernunft ist und ob sie etwas mit unserer Vernunft zu tun hat, können wir nicht bestimmen.
Alles, was von einem etwaigen Gott an Offenbarung ankommen kann, muss so geartet sein, das menschliche Erfahrung und menschliche Vernunft es auch fassen kann, - und sei es fassen als etwas Wundersames und Nicht-Erklärbares. Alles, was ein etwaiger Gott dem Menschen offenbart, muss stets in seiner Lebenswelt offenbart werden. Wundersames und Nicht-Erklärbares können aber nicht mit Sicherheit als allein von Gott stammen Könnendes identifiziert werden, weil es immer auch andere Möglichkeiten der innerweltlichen Erklärung geben könnte. Und wir wüssten auch nicht, ob es von einem guten Gott oder von einem bösen Dämon stammt usw.
Kant zumindest ist der Ansicht, dass die Richtung der Bezugnahme immer nur vom menschen (seiner Vernunft) zu Gott gehen kann, nicht umgekehrt.
closs hat geschrieben:
Falls ja: Kann man so sehen (...) - DAS aber gibt es in der Theologie ebenfalls - unter dem Namen "Offenbarung": "Etwas ersichtlich werden lassen" - hier: "kompatibel mit unserem Vernunft-Vermögen machen".
Die zusammengefasste Antwort findet sich wiederum in Eislers Kantlexikon zum Stichwort
Offenbarung:
Offenbarung.
Jeder Offenbarung muß ein reiner "Vernunftsglaube" zugrunde gelegt werden. Die Offenbarung muß so gedeutet werden, "daß sie mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt". "Denn das Theoretische des Kirchenglaubens kann uns moralisch nicht interessieren, wenn es nicht zur Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote ... hinwirkt", Rel. 3. St. 1. Abt. VI (IV 125 ff.). Alle Offenbarung muß, vom Standpunkt der Vernunftreligion, moralisch ausgelegt werden (vgl. Bibel). Daß eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen, welche die Erfahrung (Geschichte) an die Hand gibt, eingesehen werden. Ihr Charakter ist immer "die Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig erklärt". Der Ausleger offenbarter Lehren ist "der Gott in uns", "weil wir niemand verstehen als den, der durch unseren eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts als durch Begriffe unserer Vernunft, sofern sie rein-moralisch und hiermit untrüglich sind, erkannt werden kann", Str. d. Fak. 1. Abs. Anh. einer Erläuterung III (V 4, 89 ff.), Vgl. Theologie, Religion, Bibel, Christentum.
closs hat geschrieben:
1) Sind diese uns offenbaren Erscheinungen das Maß ("anthropozentrisch")?
Ja, denn wir können aufgrund unsere Erkenntnisapparates niemals das "Ding an sich" erkennen, sondern stets nur die Erscheinungen der Dinge, so wie sie unser Erkenntnisvermögen konstituiert.
closs hat geschrieben:
2) Ist das, aus dem diese Erscheinungen "sind", das Maß ("theozentrisch" - "ontologisch" - oder finde Du ein Wort, Du weißt jetzt, was damit gemeint ist).
Das kann nach Kant nicht das Maß sein (ein theozentrisches Maß; "ontologisch" verwendest du an dieser Stelle falsch), weil wir prinzipiell nichts erkennen können, das jenseits unseres Erfahrungs- und Erkenntnisvermögens liegt. Positiv formuliert können wir grundsätzlich alles erkennen, was im
Feld möglicher Erfahrungen liegt. So können wir ultraviolettes Licht, Röntgenstrahlung, Radiowellen, Ultraschall, Gravitationswellen, subatomare Vorgange etc. zwar nicht unmittelbar beobachten und dadurch Erfahrungen mit diesen machen, aber wir können sie uns durch technische Hilfsmittel erfahrbar machen. Sie liegen also im "
Feld möglicher Erfahrungen" von uns. Die Schwierigkeit ist alledings zu entdecken, dass es diese nicht unmittelbar über die Sinne erfahrbaren Phänomene überhaupt gibt.
Eine "theozentrische" Sicht kann für den Menschen und seine Vernunft also deshalb kein Maßstab sein, weil wir schlechterdings nicht wissen können, was eine theozentrische Sicht bedeuten könnte. Wir können von Gott weder sicher urteilend aussagen, dass er existiert, noch, welche Eigenschaften er hat, wenn das nicht nur ins Superlativ getriebene menschliche Eigenschaften sein sollen. Wir können zwar mit metaphysischen Begriffen jonglieren, aber "Begriffe ohne (sinnliche) Anschauungen sind
leer", wie Kant es formuliert (und "sinnliche Anschauungen ohne Begriffe sind
blind").
Sicher urteilend können wir lediglich feststellen, dass die menschliche Vernunft eine
Idee davon bildet, dass es eine höhere und andersartige Vernunft geben müsste, die die Einheit unserer Erfahrungswelt garantiert. Kant drückt diesen schwer zu verstehenden Sachverhalt so aus:
Wenn wir mit dem Verbot, alle transszendente Urteile der reinen Vernunft zu vermeiden, das damit dem Anschein nach streitende Gebot, bis zu Begriffen, die außerhalb dem Felde des immanenten (empirischen) Gebrauchs liegen, hinauszugehen, verknüpfen, so werden wir inne, daß beide zusammenbestehen können, aber nur gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs; denn diese gehöret ebensowohl zum Felde der Erfahrung, als dem der Gedankenwesen, und wir werden dadurch zugleich belehrt, wie jene so merkwürdige Ideen lediglich zur Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft dienen, nämlich, einerseits Erfahrungserkenntnis nicht unbegrenzt auszudehnen, so daß gar nichts mehr als bloß Welt von uns zu erkennen übrig bliebe, und andererseits dennoch nicht über die Grenze der Erfahrung hinaus zugehen, und von Dingen außerhalb derselben, als Dingen an sich selbst, urteilen zu wollen.
Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil bloß auf das Verhältnis einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind. Denn alsdenn eignen wir dem höchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir uns Gegenstände der Erfahrung denken, und vermeiden dadurch den dogmatischen Anthropomorphismus, wir legen sie aber dennoch dem Verhältnisse desselben zur Welt bei, und erlauben uns einen symbolischen Anthropomorphism, der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht. (Kant, Prolegomena, §57, Kursivsetzung von Grenze durch Kant selbst)
Der (Begriff) "Gott" liegt
auf der Grenze unseres Vernunftgebrauchs. In dem er auf der Grenze liegt, können wir eine
Ahnung von Gott (intellectus archetypus) haben, mehr aber nicht, weil wir die Grenze unseres Vernunftvermögens eben nicht überschreiten können.