ThomasM hat geschrieben:Es wäre jetzt wissenschaftlich, Indikatoren zu entwickeln, wie man erkennen kann, wann eine Tat - speziell auch Gewalt - welchen sozialen Kräften als Ursache zuzuordnen ist. So sind soziale Unterschiede oft Auslöser von Gewalt, politische Machtkämpfe ebenso, Missernten, Änderungen im politischen Gleichgewicht usw.
Waren die Kreuzzüge jetzt religiös oder politisch motiviert (es gibt gute Gründe, die Ursache in der Politik zu suchen), war der Kampf gegen die indigenen Ureinwohner Amerikas religiös oder wirtschaftlich motiviert (es gibt gute Gründe, dass es wirtschaftliche Gründe waren) usw.
O.k., kein Widerspruch. Bis auf den Einwand, dass bei der Mission die Geistlichkeit durchaus hätte gegensteuern können und den weltlichen Interessen des spanischen Königshauses hätte entgegentreten können.
Aber darauf geht der Autor nicht ein. Stattdessen beginnt er einen Exkurs über religiöse Gesetze.
Auch einverstanden. Für mich liest sich das so, als würde er die Gewalt "im Großen" erstmal außen vor lassen, da diese auch andere Gründe hat.
1. Angeblich errichtet Jesus Aggressionstabus
Dass das gar nicht korrekt ist, bemerkt der Autor nicht.
Warum ist das nicht korrekt? Jesus gebietet, die andere Wange hinzuhalten, wenn diese geschlagen wird. Das ist sehr schwierig. Man könnte es mal probieren - man geht in eine Messe und schlägt jedem der anwesenden Christen einmal ins Gesicht. Was meinst du, wie weit man käme? Wie weit käme man in einer katholischen, einer evangelischen Kirche, bei Neuapostholen, bei ZJ, bei STA usw.?
Natürlich will ich das nicht und es ist ein reines Gedankenexperiment. Ich behaupte aber mal, dass dieser Pazifismusgedanke für viele zu extrem ist. Die Logik Jesu ist klar. Würde sich keiner wehren, würde ich keine Macht spüren, wenn ich aggressiv bin und es würde langweilig, ich würde aufhören (solange ich kein Psychopath bin, das hat Jesus dabei vergessen, finde ich).
Auch das mit dem "wenn dir jemand deinen Mantel nimmt, dann gib ihm auch noch..." (oder so ähnlich).
Die Philosophie Jesu ist extrem und so nicht oder kaum lebbar. Die Tabus, die Jesus setzt, sind indirekte Tabus. Eine Regel ist doch "niemals Gewalt!" - also ist Gewalt tabu! Oder doch nicht?
Korrekt ist, dass Jesus auf die tiefere Ursache von Gewalt hinweist. Gewalt entsteht im Kopf. Eigentlich ist das eine recht moderne Aussage, die z.B. bei den Forschungen zu Amokläufen aktuell ist. Der typische Amokläufer frisst seine Gewaltphantasien oft jahrelang in sich hinein, bevor sie ausbrechen.
Ja eben, genau darauf bezieht sich auch der Autor. Ginge es Jesus nur darum, dass man aufpassen sollte, was man denkt, wäre es ja o.k. Wenn aber manche Christen wirklich glauben, erotische Gedanken an eine Frau wären für einen Mann bereits Ehebruch, dann ist das auch extrem und nicht oder nur schwer einhaltbar. Wenn bereits Gedanken an Sünde Sünde sind, dann ist das Psychofolter, denn jeder ist dann komplett und durch und durch sündig. Man hat immer einen Grund, sich schlechtzumachen, sich als minderwertig zu sehen, als nicht würdig usw. Das erzeugt genau das, was bei Amokläufen ausbricht.
Der Grundgedanke, dass man nicht einfach den Gedanken freien Lauf lassen soll, ist ja o.k., aber die Schlüsse daraus, was alles bereits Sünde ist, macht ein normales Leben doch kaum noch möglich. Zum Glück denken die meisten Christen nicht so, die sind aber auch nicht das Pulverfass. Die Evangelikalen und andere Extremisten sind es.
Die Psychologie empfiehlt hier, den potenziellen Täter früh zu identifizieren und mit ihm zu arbeiten, dass es nicht zu einem solchen Aggressionsstau kommt.
Dasselbe gilt auch für moderne soziale Empfehlungen, wie Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Familie, Fremdenhass usw. Immer wird heutzutage empfohlen, dass man sein Denken ändert, seine Sprache ändert, aktiv an sich arbeitet.
Ja: ändert, aber nicht verteufelt. Das ist der Knackpunkt.
Jesus sagt, dass man seine Aggressionen bei Gott abgeben soll, dass man sie mit Hilfe Gottes überwinden soll. Im Grunde ist das eine psychotherapeutische Frühform, die auch eine Institutionalisierung in Form der Seelsorge hat. Dass Seelsorge zu oft in Machtausübung umgeschlagen ist, hat zur Folge, dass diese Therapie eben oft nicht korrekt funktionierte.
Ja, weil diese "Therapie" zur Gedankenkontrolle ausartete ("Beichte")
Aber Vinnai sagt einfach "das Christentum definiert Tabus und dadurch entsteht Frustration und dadurch Gewalt". Er macht das, um damit indirekt zu sagen "die Gewalt hat ihre Ursache in der Religion", ohne auf die Frage einzugehen, dass sie ihre Ursache auch in anderen sozialen Mechanismen haben kann.
Letzteres hat er bereits ganz oben zugegeben. Insofern sagt er nur: neben den sozialen Mechanismen kann auch Religion an sich zu Gewalt führen. Dem stimme ich zu.
2. Angeblich errichtet Jesus Sexualtabus
Hier gilt ähnliches. Nun war Sexualität tatsächlich oft tabuisiert, aber es ist eigentlich bekannt, dass die Ursache die patriarchalische Gesellschaftsstruktur war, also eine soziale Ursache.
Hm, was hat Masturbationsverbot mit Patriarchat zu tun? Oder das Verbot "unzüchtiger Gedanken"? (siehe oben)
Es geht ja nicht darum, was Jesus (falls er irgendwie göttlich war) will, sondern, was Menschen in einer Religionsgemeinschaft daraus machen. Und diese Form der Selbstbeschränkung ist durchaus christlich. Selbst mir, der ich kein Christ bin, wurde hier im Forum Egoismus und Egozentrismus vorgeworfen, nur weil ich sage, dass ich diese Sexualmoral nicht annehme und nicht nach ihr lebe. Merkst du was? Was muss dann ein Christ sich anhören, wenn er mal etwas "verbotenes" tat (Sex vor der Ehe, Masturbation - oder gaaaanz schlimm: Bi- bzw. Homosexualität)? Das erzeugt viel Verklemmtheit und Leid.
Man kann das aber gut an den kommunistische Regimen sehen z.B. DDR oder China, die - vollkommen ohne Religion - eine starke Tabuisierung von Sexualität zeigen.
Gerade die DDR war aufgeschlossener als die BRD (wie schon erwähnt wurde, hatten sie mehr Zeit dafür - aber vor allem galten weniger religiöse Beschränkungen und Tabus, da weniger Menschen wirklich streng religiös waren). Was China angeht, weiß ich es nicht, ich glaube aber nicht, dass die Chinesen enthaltsamer als Christen sind.
Auch hier geht der Autor nicht auf das Henne-Ei Problem ein. Wurde Sexualität tabuisiert wegen der Gesellschaftsstruktur oder der Religion. War Religion die Ursache oder Deckmantel?
Bei uns herrscht seit 1600 Jahren das Christentum. Es hat die Gesellschaft zu dem gemacht, was sie ist. Davor war sie sexuell deutlich enthemmter (z. B. Rom). Insofern: Religion in einer Feedbackschleife mit der Soziostruktur.
Die im NT überhöhte Darstellung der sexuellen Sünde hat theologische Gründe. Das kann Vinnai natürlich nicht erkennen, da er diesen Teil schlicht ausblendet.
Ihm geht es nicht um die Theologie dahinter, sondern um das, was das Aufstellen zu harter Regeln für Menschen aus den Menschen macht. Warum die Regeln so hart sind, ist da doch sekundär.
Genau dagegen stellt Jesus seine Aussage "jeder ist sündig, niemand kann von sich aus gerecht werden". Das Ziel ist die Rettung durch Glaube.
Ja, das ist ja das perfide, das schlimme daran. Erst wird dir eingetrichtzert, dass du das allerletzte bit. Du bist schon wegen Eva (und Adam) verdammt, trägst die Erblast als Sippenhaft der Ursünde, bist komplett fehlerhaft, völlig daneben, musst dich reuig runtermachen und dann frohlocken, weil Jesus dich als allerunterstes sündiges Etwas gnädigerweise doch errettet, wenn du ihn anbetest und lobpreist. Dazu die Regeln, die man nicht brechen darf, das Denkverbot (keine unzüchtigen Gedanken, der Gedanke allein ist schon Sünde). Bei religiösen Extremisten ist sowas ein Brandbeschleuiniger hin zu dem Amokläufern. Bie normalen Menschen prallt das zum Glück ganz gut ab, weil unsere Gesellschaft das mittlerweile erlaubt.
Schlüssig kann eine Logikkette nur sein, wenn sie eindeutig ist.
Wenn sie die Gewalt von nur wenigen, einzelnen erklärt, wäre sie bereits schlüssig. Es muss ja nicht immer so zutreffen. Heute wird das bei uns eher selten der Fall sein.
So ist der Allgemeinplatz "sexuelle Tabuisierung kann Gewaltneigung verstärken" keineswegs geeignet zu begründen "die Ausrottung der Indianer in Amerika hatte ihre Ursache in der sexuellen Unterdrückung der Siedler".
Stimmt.
Das sagt Vinnai auch nicht, denn so direkt im Zusammenhang wird der Unsinn dieser Logikkette zu deutlich
Ich erkenne diesen Schluss nicht in seiner Logikkette, aber es ist interessant, dass du es so interpretierst. Ich werde versuchen, deinen Gedankengang nachzuvollziehen.
Er erklärt den Allgemeinplatz (und sagt damit die Wahrheit) und lässt das kommentarlos in dem Zusammenhang stehen. Den (falschen) Schluss darf der Leser ziehen - so wie du das tust - Herr Vinnai kann sich seine Hände in Unschuld waschen.
Die typische Vorgehensweise von Demagogen.
Wie gesagt: Danke für die Denkanstöße. Im Moment kann ich diesem Urteil aber nicht folgen - muss aber auch noch darüber nachdenken.