Exegese von Mk. 5,1-8 (Mt.8,28-29 + Lk.8,26-29)
Nachdem Jesus in der vorhergehenden Naturwundergeschichte einen Sturm gebändigt hat (Mk.4,35-40), geht er am anderen Ufer des "Meeres" (gr. "Thalassa", womit aber der See Genezareth gemeint ist) an Land ins Land der Gerasener.
Zur redaktionsgeschichtlichen Methode gehört, sich die Rahmung der zu untersuchenden Perikope genauer anzuschauen: was geschah vorher, was geschieht nachher? Ebenfalls werden die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten unter die Lupe genommen. Wo kommt Jesus her, wo befindet er sich gerade, wo geht er hin und welche Zeitangaben werden genannt (Wieviel Zeit braucht er für den Weg? Sind gerade jüdische Feiertage oder stehen welche an etc.pp.). Ich gehe auf diese Fragen hier nicht weiter ein, weil eine genaue Untersuchung zu weit führen würde. Ich verrate an dieser Stelle aber soviel: wir werden diesbezüglich noch eine Überraschung erleben mit weitreichenden Konsequenzen ...
Kaum hat Jesus den Fuß an Land gesetzt, kommt ihm sogleich ein Mann entgegengelaufen "
mit unreinen Geist", also von mindestens einem Dämon besessen. Dieser Mann wird von Mk. schauerlich beschrieben:
3 der die Behausung hatte in den Gräbern, und auch mit Ketten konnte ihn niemand mehr binden, 4 weil er (schon) oft mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden war, und zerrissen wurden von ihm die Ketten und die Fußfesseln waren zerrissen worden, und niemand vemochte ihn zu bändigen. 5 Und immerdar, nachts und tags, war er in den Gräbern und in den Bergen, schreiend und sich schlagend mit Steinen. (Mk.5,3-5)
Eine Szenerie wie aus dem Horrorfilm. Die monströse Beschreibung soll verdeutlichen, um einen wie schweren Fall es sich hier handelt, um den sich Jesus nun kümmern muss. Auf Jesus läuft ein Mann zu, der Ketten sprengt und Fußfesseln zerreibt, der laut herumschreit, sich selbst mit Steinen verletzt, in den Gräbern lebt und den niemand zu bändigen vermag. Ein wildes, übermenschlich starkes, bedrohliches, völlig irres und vielleicht früher einmal zur menschlichen Zivilisation gehörendes Wesen - jetzt aber nicht mehr -, welches augenscheinlich höchst gefährlich ist.
Dem Evangelisten Lukas scheint das alles ein wenig zu sehr Spektakel und Horror gewesen zu sein. Als gebildeter Arzt möglicherweise literarisch zurückhaltender, verlegt er einen Teil der ebenso ausführlichen wie wüsten Beschreibung des wilden Mannes, die bei Mk. vollständig
vor der Begegnung mit Jesus erfolgt,
nach dessen Begegnung mit ihm. Dadurch wirkt seine Beschreibung zunächst zurückhaltender als die des Mk. Parallel zu
Markus' 2 Versen findet sich bei
Lukas nur 1 Vers:
27 Ihm aber, der (kaum) ausgestiegen war ans Land, trat entgegen irgendein Mann aus der Stadt, der hatte Dämonen, und seit geraumer Zeit zog er kein Gewand an, und im Haus blieb er nicht, sondem in den Gräbern. (Lk.8,27)
Und parallel dazu Mk.
2 Und (kaum) war er ausgestiegen aus dem Boot, gleich trat ihm entgegen aus den Gräbern ein Mensch in einem unreinen Geist,
3 der die Behausung hatte in den Gräbern, und auch mit Ketten konnte ihn niemand mehr binden, 4 weil er (schon) oft mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden war, und zerrissen wurden von ihm die Ketten und die Fußfesseln waren zerrissen vorden, und niemand vemochte ihn zu bändigen. 5 Und immerdar, nachts und tags, war er in den Gräbern und in den Bergen, schreiend und sich schlagend mit Steinen. (Mk.5,2-5)
Lukas fährt erst nach der Konfrontation Jesu mit dem Dämon (den Dämonen) mit der Beschreibung des Mannes fort:
29 Denn eingeschärft hatte er [Jesus] dem Geist, dem unreinen, auszufahren von dem Menschen. Denn seit langer Zeit hatte er ihn gepackt, und er wurde gefesselt mit Ketten und Fußfesseln, zur Bewachung, und er sprengte die Fesseln und wurde getrieben vom Dämon in die Wüsteneien. 30 Es fragte ihn aber Jesus: Was ist dein Name? (Lk.8,29-30)
Dem aufmerksamen Leser wird bei der Beschreibung des Besessenen durch Lk. etwas aufgefallen sein. Na, was ist bei Lk. auffällig ...?
Richtig! Bei Lk. ist der Besessene plötzlich nackt ("und seit geraumer Zeit zog er kein Gewand an"). Bei Mk. wird nicht erwähnt, dass der Besessene nackt ist. Warum aber tut Lk. das?
Nun, er nimmt einen Teil der drastischen Beschreibung weg, die Mk. gleich zu Anfang bringt, um diesen Teil erst später einzufügen, und zwar nachdem die Dämonen Jesus als "Sohn Gottes, des Höchsten" (Lk.8,28) bezeugt (und seine Macht über sie damit anerkannt) haben und Jesus den Dämonen bereits geboten hat, auszufahren aus dem Mann (Lk.8,29). Lk. verteilt die monströse Beschreibung des Besessenen, um einreseits eine dramatische Steigerung von dessen Bedrohlichkeit zu erreichen, um aber andererseits deutlich zu machen, dass Jesus - als Sohn Gottes, des Höchsten - dennoch nie wirklich in Gefahr war. Lk. möchte sozusagen nicht das ganze Pulver schon gleich zu Anfang verschießen, wie Mk. Er möchte aber auch nicht, dass seine Beschreibung des Besessenen durch seinen Eingriff nun plötzlich zu wenig eindrücklich wird und der Besessene zu wenig unzivilisiert, wild und gefährlich wirkt. Die Wirkung der Beschreibung auf den Leser ist bei Mk. eindrücklicher (und beängstigender), während Lk. die Macht und Überlegenheit Jesu hervorhebt, indem er nach dessen Befehl (an die Dämonen auszufahren) mit der weiteren Schreibung des Bessenen vor Augen führt, wie mächtig diese Dämonen sind und in welch bedauernswerten Zustand sie den Mann versetzt haben.
Die Nacktheit des Besessenen bringt ein neues erzählerisches Element in die Beschreibung und literarisch passt sie ja auch sehr gut, denn wenn der Besessene auch noch nackt ist, macht ihn das in gewisser Weise natürlich noch unzivilisierter. Zudem ergänzt Lk. auch noch: "... und wurde getrieben vom Dämon in die Wüsteneien ", also weit weg von menschlicher Zivilisation.
An solchen stilistische Verbesserungen und Stileigentümlichkeiten, betreffend die Wortwahl, die Änderung der Satzkonstruktion o. ä. vermag man sehr schön die Eigentümlichkeiten der redaktionellen Überarbeitungen der verschiedenen Evangelisten erkennen.
STILISTISCHE VERBESSERUNGEN und STILEIGENTÜMLICHKEITEN bei Lukas
Wenn z.B. Lukas das praes. hist.*, des Markus fast durchgehend in eine Form der Vergangenheit abwandelt und vielfach die parataktische Darstellungsweise des gleichen Evangelisten entweder durch eine hypotaktische oder eine partizipiale Konstruktion verändert, so handelt es sich um stilistische Verbesserungen. Zugleich kann damit auch die Stileigentümlichkeit des Lukas gefaßt werden. Stiluntersuchungen gehören notwendigerweise zur redaktionsgeschichtlichen Methode, weil dadurch die Eigenart und auch die Absicht des jeweiligen Verfassers besser in den Blick kommen. Bei Lukas z. B. hat man darauf zu achten, daß er seine Sprache häufig der der LXX angleicht.
(Heinrich Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre, Darstellung der historisch kritischen Methode, 7. Aufl, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart: 1982, S.226+227)
*praes.hist.= praesens historicum = historisches Präsenz = wenn Geschehnisse in der Vergangenheit durch die Verwendung des Präsenz so dargestellt werden, als ob sie gerade geschähen
Matthäus geht einen anderen, literarisch dramatisierenden Weg als Lk.:
28 Und als er gekommen war ans jenseitige Ufer, ins Land der Gerasener, traten ihm entgegen zwei Besessene, aus den Gräbern hervorkommend, ganz gefährliche, so daß keiner vermochte vorbeizugehen auf jenem Weg. (Mt.8,28)
Es ist leicht zu sehen, was Mt. ändert, da es offensichtlicher ist als bei Lk.
Mt. wendet die literarische Kunstform der VERDOPPELUNG an, in dem er aus einem Besessenen Gerasener einfach zwei macht. Sinn und Zweck der Doppelung ist es wiederum, die Autorität und Macht Jesu größer erscheinen zu lassen.
Wenn Jesus nicht nur einen Besessenen heilen kann (indem er dessen Dämonen austreibt, deren Anzahl "Legion" ist), sondern gleich zwei, dann muss er logischerweise auch über doppelt soviel Macht verfügen. So jedenfalls will es die erzählerische Logik von Wundertaten (die gelegentlich dazu führt, dass alle Synoptiker so genannte SUMMARIEN bilden und diese Summarien zuweilen sogar kopieren. Siehe hierzu den Exkurs weiter unten!).
Zudem versperren jetzt gleich zwei gefährliche Besessene Jesu Weg, womit Mt. ebenfalls sehr schön deutlich macht, dass es nun gefährlich für Jesus werden könnte. Erzählerisch stümperhaft ist freilich, dass Mt. die Gefährlichkeit der Besessenen nicht so bild- und lebhaft vor Augen führt, wie Mk. und auch Lk. Matthäus ist der Ansicht, es reichte einfach hinzuschreiben, die beiden Besessenen seien: "... ganz gefährliche ..."!
Die stilistische Vorgehensweise von Mt. an dieser Stelle ist freilich typisch für ihn: er verwendet häufig das Stilmittel der VORLAGENKÜRZUNG:
VORLAGENKÜRZUNG:
Sowohl Matthäus als auch Lukas kürzen die Markus-Vorlage vielfach dort, wo ihnen die Darstellung zu breit und ausführlich erscheint. Vor allem für Matthäus ist charakteristisch, daß er insbesondere den erzählenden Teil einer Markus-Perikope oftmals stark verkürzt (vgl. etwa Mt 8,28-34 mit Mk 5,1-20; Mt 9,1-8 mit Mk 2,1-12). Gelegentlich ist zu beobachten, daß der erste Evangelist die Kürzung nicht nur als stilistisches Mittel verwendet, sondern damit eine Sinnänderung anstrebt (vgl. Mt 9,18-26 mit Mk 5,21-43).
(Heinrich Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre, Darstellung der historisch kritischen Methode, 7. Aufl, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart: 1982, S.226+227)
Exkurs: Das Bilden von SUMMARIEN:
Summarien werden literarisch konstruiert, um die Wirkungen der Wundertätigkeit Jesu zu vervielfältigen und damit für die Leser eindrücklicher zu machen. Zudem erscheint Jesu Wundertätigkeit dadurch breiter und umfänglicher zu sein. Schon Mk. greift zu diesem Stilmittel:
Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie alle Kranken und Besessenen zu ihm. Und die ganze Stadt war vor der Tür versammelt. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. (Mk.1,32-34)
Man findet gerade in Summarien die typische Wortwahl und Gedankenwelt des Autors. Summarien schließen oftmals einzelne Geschichten summierend ab oder sie verbinden die eine Geschichte mit einer anderen, sie eignen sich also gut für Übergänge und Resümees.
Am Abend brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus durch die Macht des Wortes und heilte alle Kranken. So sollte in Erfüllung gehen, was durch den Propheten Jesaja gesagt ist: Er nahm unsere Schwachheit auf sich, und unsere Krankheiten trug er. (Mt 8,16-17)
Ist der Unterschied aufgefallen? Während bei Mk. (nur) "viele" geheilt werden und (nur) "viele" Dämonen ausgetrieben, sind es bei Mt. gleich ALLE. Mt. nimmt es nicht hin, dass Jesus in seiner markinischen Vorlage nur viele heilen kann und nur viele Dämonen ausgetrieben werden, bei einigen dies aber offenbar nicht gelingt.
Mt. kopiert manchmal auch einfach ein Summarium:
Und er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk. (Mt 4,23)
Und Jesus zog umher in allen Städten und Dörfern, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen. (Mt.9,35)
Die beiden Summarien sind fast bis in den Wortlaut identisch. Dadurch kann die Wunderkraft Jesu literarisch ohne großen Aufwand gesteigert werden.
Das geht aber auch so:
Und er bricht von dort auf und kommt in das Gebiet von Judäa jenseits des Jordan, und wieder strömen ihm die Leute zu. Und wie es seine Gewohnheit war, lehrte er sie wieder. (Mk 10,1)
Mt. macht aus dieser Stelle:
Und viele Leute folgten ihm, und er heilte sie dort. (Mt 19,2)
Aus Markus' "lehren" wird bei Matthäus "heilen". Und schwupps gibt es eine weiteres Wunder Jesu, dafür aber natürlich etwas weniger Lehrtätigkeit. Doch ein Heilungswunder ist eben spektakulärer als langweiliges lehren.
Nicht nur, dass Jesus der (bei Mt. gleich doppelten) Gefahr, die sich ihm nähert, nicht ausweichen kann, kommt der wilde Mann auch sogleich zu ihm gelaufen, kaum, als er Jesus erblickt. Es scheint geradezu, als würde dieses Wesen von Jesus magisch angezogen.
Und so ist es auch: das Geistwesen "Dämon" (bzw. die Dämonen) erkennen in Jesus sofort ein wesensähnliches - wenn auch ungleich mächtigeres Geistwesen - nämlich den "Gottessohn".
Was (ist zwischen) mir und dir, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? (Mk.,5,7)
Was (ist zwischen) uns und dir, Sohn Gottes? (Mt.,8,29)
Was (ist zwischen) mir und dir, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? (Lk.,8,28)
Matthäus bemerkt den kleinen Fehler seiner Markus-Vorlage, welcher den Dämon im Singular sprechen lässt. Doch es stellt sich ja heraus (wenn der Dämon Jesus seinen Namen bekennt), dass es sich in Wahrheit um "viele" Dämonen handelt.
Das Problem, wie man gleich viele Dämonen, die aber aus einem einzigen besessenen Mann sprechen, am besten sprechen lässt, ist freilich kein einfaches. Wie soll man das literarisch am geschicktesten ausdrücken?
Jesus spricht ja nicht mit dem besessenen Mann! Der ist sozusagen fort. Es sind Jesus und der Dämon (bzw. die Dämonen), die das Gespräch führen, wiewohl Gespräch zuviel gesagt ist, denn der Dämon/die Dämonen schreit/schreien und brüllt/brüllen mit "gewaltiger Stimme" wie Mk. und Lk. schreiben.
Und genau das ist die literarische Lösung des Problems! Der Dämon/die Dämonen sprechen "mit gewaltiger Stimme", weil sie einerseits auch mächtig sind (was man daran sieht, was sie mit dem armen Mann machen), andererseits sprechen sie aber auch gewaltig und laut und schreinen, weil es "viele" sind.
Bei Mt. "schreien" die Dämonen allerdings, indem sie "sagen" (
29 Und siehe, sie schrien, indem sie sagten: Mt. fällt keine bessere Lösung ein.
Soviel bis dahin ... Das nächste Mal geht es mit den Dämonen, ihrem Namen und der sich in den Tod stürzenden Schweineherde weiter ...